Der SPIELKRITIK slowtalk: Vier Leute unterhalten sich über ein Thema – mindestens eine ganze Woche lang. Ein Gespräch, das Zeit lässt – zum Recherchieren, Nachdenken und in Worte packen. Die Idee dahinter: die Dynamik und Perspektivenvielfalt einer moderierten Diskussion mit der inhaltlichen Tiefe, der Genauigkeit und dem sprachlichen Niveau eines sorgfältig formulierten Artikels zu verbinden.
Für die dritte Ausgabe sprach ich mit Nora Beyer, Aurelia Brandenburg und Christian Neffe vier Wochen lang über das Thema: „Kanon Fodder: Zweck, Aufbau und Inhalt eines Videospiel-Kanons“. Im ersten Teil unserer Unterhaltung geht es vor allem um die Frage nach den Kriterien für eine Kanonisierung und um die Machtstrukturen, die den Kanon bestimmen. Viel Spaß beim Lesen! [sk]
#01: sylvio
Liebe Leserinnen und Leser, liebe Gäste! Wer kennt sie nicht, die Spiele, die „in keiner Sammlung fehlen“ dürfen, die man kennen und gespielt haben „muss“?
Sicherlich denken wir, wenn wir an das Jahr 2005 zum Beispiel denken, alle direkt an Konamis Enthusia, an Rockstars The Warriors und American McGees Scrapland. An Pariah vielleicht? Nein, auch nicht? Hmm. Warum sind wir so verwundert, dass Bulletstorm remastered wurde, während wir bei Okami und Shadow of the Colossus auch noch die Drittveröffentlichung in Ehren halten? Wieso können Spielejournalisten auf der ganzen Welt offenbar erwarten, dass die Leser schon wissen, was damit gemeint ist, wenn sie einmal mehr ein x-beliebiges Spiel mit Dark Souls vergleichen? Und was hat eigentlich Kirby’s Dream Course auf dem SNES Mini zu suchen?
Solchen, aber auch sehr viel grundsätzlicheren Fragen möchten wir nachgehen, in der dritten Ausgabe des SPIELKRITIK slowtalks. „Kanon Fodder: Zweck, Aufbau und Inhalt eines Videospiel-Kanons“, lautet das Thema diesmal. Doch bevor wir in die Diskussion einsteigen, möchte ich unsere auch diesmal ganz famosen Gäste begrüßen. Jeweils zum ersten Mal dabei, aber durch ihre GASTSPIELER-Artikel bereits bei Spielkritik bekannt, sind Nora Beyer, Aurelia Brandenburg und Christian Neffe. Hallo alle miteinander, schön, dass ihr Lust habt, über dieses spannende Thema zu sprechen!
Nora: Hallo zusammen! Danke für die Einladung.
Über Nora Beyer: Nora ist der weltgrößte Fan von Baldur’s Gate, sie hat einen M.A. in Ethik der Textkulturen und interessiert sich für Metathemen und Kontroverses. Aus der gedruckten GameStar ist sie kaum mehr wegzudenken – und demnächst auch aus der GAIN. Das Dichten, Zeichnen und Mountainbiken sind nur einige ihrer anderen Talente.
Aurelia: Hi, alle miteinander! Ich freue mich, dabei zu sein.
Über Aurelia Brandenburg: Aurelia studiert in Würzburg Geschichte und Digital Humanities. Sie hat eine Schwäche für das Mittelalter und schon früh lief auf ihrem Laptop alles, was ein irgendwie historisches oder Fantasy-Setting hatte. Geschichte und Geschichten, Geschichte in Geschichten und die Erzählweise von Geschichten beschäftigen die erfahrene Bloggerin auch auf Ihrem Buch-, Film- und Games-Blog Geekgeflüster.
Christian: Hallo auch von mir und vielen Dank für die Einladung. Ich freue mich auf ein produktives Gespräch.
Über Christian Neffe: Filmexperte Christian hat Medienwissenschaften studiert und ist nun als Volontär der Leipziger Volkszeitung auf dem bestem Weg zum „richtigen Journalisten“. Als Gamer ist er viel herumgekommen: einstiger Nintendo-Fanboy, dann Xbox, neuerdings PC – nur generell viel zu wenig Zeit für Spiele. Dass es mit seiner anderen Leidenschaft, Filmen, besser läuft, kann man auf seinem umfangreichen Blog verfolgen.
Darauf freue ich mich auch. Dann bin ich mal gespannt, ob wir gemeinsam zu neuen Erkenntnissen gelangen können!
Ich möchte gern mit einer Beobachtung beginnen, die mich neben anderen auf unser heutiges Thema gebracht hat, und zwar das – wie ich finde – erdrückende Übergewicht einiger weniger Spieletitel in der öffentlichen Diskussion. Mir ist das vor allem bei Games-Podcasts aufgefallen, in denen sich Gespräche eher spontan entwickeln, wie zum Beispiel bei Auf ein Bier, bei Doomian oder Pixeldiskurs. Es sind gefühlt immer wieder dieselben (und in absoluten Zahlen relativ wenige unterschiedliche) Spieletitel, die dort immer und immer wieder als Referenzen und gemeinsame Diskussionsgrundlage herangezogen werden. Das ist nicht nur Dark Souls, das ist auch Life Is Strange, The Last of Us, Horizon: Zero Dawn, der Tomb Raider Reboot… Und selbst ein Zelda: Breath of the Wild offenbar schon wieder weniger.
Ich habe daher den Eindruck, dass einige wenige Titel ein solches Übergewicht im öffentlichen Diskurs haben, wie es in keinem gesunden Verhältnis zum großen Rest steht. Seht ihr das ähnlich? Wenn ja, woran liegt das? Läuft hier etwas schief, ist das Medium noch immer zu “arm” um mehr dauerhaft diskussionswürdige Titel hervorzubringen, oder zu sehr auf große Hypes fixiert? Oder beobachten wir hier einen ganz gewöhnlichen (und sinnvollen und wichtigen) Prozess von Kanonbildung?
#02: christian
Ich denke, das ist ein ganz normaler Prozess wie man ihn auch in anderen Kulturdiskursen vorfindet. Egal ob wir über Spiele, Filme, Musik oder Literatur reden: Wir brauchen Referenzpunkte, an denen sich möglichst viele Menschen orientieren können. Da eignen sich solche Leuchtturm-Werke eben am besten, weil sie den meisten schon bekannt sind und als entsprechende Vergleichsgröße dienen können. Das bringt natürlich das Problem mit sich, dass es vornehmlich die kommerziell erfolgreichen und nicht zwangsläufig die Titel sind, die für die Entwicklung des Mediums am relevantesten waren, welche den Diskurs dominieren.
Letztlich glaube ich aber schon, dass das nicht unwesentlich zur Bildung eines Videospiel-Kanons beitragen kann – oder sogar, dass diese Diskussionen als wichtigste Grundlage dafür dienen können. Meines Erachtens ist eine starke öffentliche Wahrnehmung eines Titels auch Jahre nach seinem Erscheinen der wichtigste Anhaltspunkt dafür, ob ein Werk einen Platz in einem solchen Kanon verdient hat. Oder welche Kriterien seht ihr dort?
#03: aurelia
Vielleicht müssen wir auch einfach zwischen einem Kanon und einer Geschichte der Videospiele scharf unterscheiden. Sieht man zum Beispiel einen Kanon als Sammlung wichtiger, auch entscheidend im Sinne von viel beachteten und bekannten Werken, dann machen AAA-Spiele eben zwangsweise einen entscheidenden Teil davon aus. Romane haben ja genauso eher eine Chance darauf, als langfristig bedeutende oder moderne Klassiker gesehen zu werden, wenn sie eben in einem Verlag statt per Selfpublishing veröffentlicht und später dann viel in der Mainstream-Presse statt nur in der kleinsten Nische besprochen werden.
So eine öffentliche Aufmerksamkeit sagt aber natürlich noch nichts darüber aus, wie einflussreich etwas tatsächlich und unter welchem Aspekt ist. Manchmal ist ein für einen Kanon wichtigeres Werk auch nur deshalb da wichtiger, weil es eine andere Idee aufgegriffen und erfolgreich oder bekannt gemacht hat. Der Ursprung dieser Idee ist für die Geschichte des Mediums oder Genres interessant, aber nicht zwingend für den Kanon. Im Verhältnis hat denke ich genauso kaum jemand Infiniminer gespielt wie Sheridan Le Fanus “Carmilla” gelesen, sondern stattdessen das kanonisch wichtigere Minecraft gespielt bzw. dann eben in literarischer Entsprechung “Dracula” gelesen. Ich sehe da also auch in einem Kanon aus zum Beispiel rein kommerziell erfolgreichen Werken bzw. dann eben hier Videospielen nicht zwingend ein Problem. Und historische Bedeutung klären ohnehin immer die Experten am Ende in der Nische der Nische.
#04: christian
Da stimme ich dir zu: Entscheidend ist nicht, wer etwas erfunden hat, sondern wer es etabliert und populär gemacht hat. Auch wenn der Erfinder zumindest Erwähnung finden sollte… Wir erleben das ja gerade ganz aktuell bei der Debatte um das große Trend-Thema Battle Royale: PlayerUnknown’s Battlegrounds beansprucht da eine gewisse Urheberschaft für sich und hat sogar Epic Games wegen Fortnite verklagt. PUBG hat das Genre Battle Royale allerdings nicht erfunden. Die Idee gibt es in der Popkultur schon mindestens seit dem 18 Jahre alten Film und auch spielerisch wurde es schon vorher umgesetzt, beispielsweise in einer Minecraft-Mod. PUBG hat ihm dann zwar zum großen Durchbruch verholfen, wird nun aber von Fortnite überholt. Welches dieser Werke gehört nun in einen möglichen Kanon?
Dieser Frage werden wir uns, denke ich, immer wieder stellen müssen und letztlich keine eindeutige Antwort darauf finden. Ich wage auch zu bezweifeln, dass wir uns auf eindeutige, objektive Kriterien festlegen können, nach denen entschieden werden kann, was in einen Kanon gehört. Shadow of the Colossus beispielsweise war weder kommerziell sonderlich erfolgreich, noch hat es eine Welle von Nachahmern produziert. Trotzdem gehört es meines Erachtens in einen solchen Kanon.
#05: sylvio
Es scheint zumindest einen Grund zu geben, warum das Battle Royal-Genre erst mit PUBG ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte. Ich bin daher auch ganz bei euch, wenn es darum geht zu sagen, dass ein Kanon keine „Innovationsgeschichte“ sein kann. Deshalb ist DMAs Body Harvest auch immer eine schöne Fußnote, und GTA I und II verdienen als Ursprünge des Franchises ihre Erwähnung – aber das kanonische Spiel in dieser Reihe ist mit Sicherheit GTA III (alternativ vielleicht auch Vice City oder San Andreas, aber das sind Feinheiten, abhängig davon, ob man Originalität oder Vollendung höher schätzen möchte).
Für mich noch nicht sehr überzeugend ist das Kriterium der Popularität oder des kommerziellen Erfolgs. Natürlich, ein „Mindestbekanntheitsgrad“ muss gegeben sein, damit ein Spiel im Kanonisierungsprozess nicht von vornherein außen vor ist, und wenn ein größerer Publisher dahinter steht, ist diese Einstiegshürde schon einmal genommen. Ich habe aber nicht den Eindruck, dass es in der Retrospektive noch von großer Bedeutung ist, ob ein Werk ein wirtschaftlicher Flop oder ein Millionenerfolg war. Es scheint schon zu genügen, dass ein Werk diese Mindestpopularität einigermaßen zeitnah erreicht hat: Das ist etwa bei Ico geschehen, das noch weniger als Shadow of the Colossus die Kriterien von Erfolg und direkten Nachahmern erfüllt, und in anderen Medien ist sicherlich die Literatur der europäische Moderne ein treffendes Beispiel, die bei ihrem Erscheinen eigentlich von kaum irgendwem gelesen wurde. Ich denke aber auch, dass es eine Halbwertszeit gibt, innerhalb derer ein Werk in seiner Bedeutung „entdeckt“ werden muss, da verspätete Kanonisierungen selten sind. Oder fallen euch viele Werke aus anderen Medien ein, die tatsächlich erst Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte nach ihrer Schöpfung ins Gespräch kamen und dann trotzdem kanonisiert wurden? Das scheint mir die absolute Ausnahme.
Ein Kriterium, das bisher noch nicht so durchkam, für mich aber ganz zwingend ist, das ist schlicht die Exzellenz der einzelnen Titel. Auch deshalb ist es ja oft nicht der Begründer einer neuen Idee, der den Sprung in den Kanon schafft, sondern das Werk, das die Idee zur Reife bringt. Wenn die Qualität eines Werks nur im Verhältnis zu anderen Werken (also in den Währungen Innovation und künstlerischer Einfluss) oder im Verhältnis zu seinem kommerziellen Erfolg und zeitgeschichtlichen Einfluss zu finden ist, das Werk selbst aber gar nicht gelungen ist, gehört es in meinen Augen nicht in einen (allgemeinen) Kanon, an den ich den Anspruch stellen würde, dass alle enthaltenen Werke von hervorragender Qualität sind, eventuell sogar von einer Art Vollkommenheit, je enger der Kanon gefasst ist. Dass Exzellenz möglicherweise noch stärker eine subjektive Kategorie ist als Einfluss und Erfolg – das ist natürlich klar.
#06: nora
Ich finde dein Stichwort zur Subjektivität hier sehr entscheidend. Letztlich unterliegen wir doch einem klassischen Zirkelschluss, wenn wir die öffentliche Wahrnehmung, wie Christian meinte, als Maßstab für die Relevanz eines Spiels und damit dessen Zugehörigkeit zu einem möglichen Kanon betrachten. Die öffentliche Wahrnehmung wird bei AAA-Spielen schlicht durch deren immensen Marketingapparat, in den Unsummen investiert werden, ja erst generiert. Kritisch gesehen scheint sie mir also kaum als geeigneter Maßstab für eine Kanonisierung. Sicherlich aber haben kommerziell erfolgreiche Spiele, ebenso wie Kino-Blockbuster, ihre Berechtigung und allein der kommerzielle Erfolg und/oder die öffentliche Wahrnehmung sind natürlich auch kein pauschales Ausschlusskriterium, sonst setzen wir uns selbst ganz schnell in den Elfenbeinturm. Was ich aber auf jeden Fall zur Diskussion stellen wollen würde ist die Frage nach der Subjektivität, genauer: Wer entscheidet denn eigentlich darüber, was einem Kanon zugehörig gemacht wird und was quasi aus dem weltgeschichtlichen Archiv als Randnotiz schließlich wegbröckelt? Wer entscheidet denn, welche Spiele relevant sind und welche nicht? Und relevant in welchem Sinne eigentlich? Technologisch? Inhaltlich? Ästhetisch? Wenn wir uns dieser Frage annähern treffen wir notwendigerweise auf Machtstrukturen. Denn jeder Kanon ist letztlich dogmatisch und wird gesetzt. Die Frage ist von wem und wozu und ob diese Art von “blickwinkelgebender“ Macht (wir sehen letztlich nur das, was in der breiten Öffentlichkeit behandelt wird) nicht auch ein großes Gefahrenpotential birgt.
#07: aurelia
Guter Punkt, wobei man genau da auch einhaken könnte, dass so gesehen, kein Kanon jemals wirklich eine Zusammenstellung von Werken ist, die man ernsthaft rezipiert haben muss oder soll, sondern nur eine, die eine bestimmte Gruppe für – in welcher Form auch immer – wertvoll erachtet hat. Das schließt automatisch Unmengen an nicht zwingend schlechten Werken aus, sei es wegen des Elfenbeinturms, den du ansprichst, Nora, oder weil etwas nicht die große Presse bekommt, die es vielleicht verdient haben könnte. Jeder als quasi allgemeingültig definierter Kanon ist per se schlicht ein Konstrukt, dessen Sinn sich schon nur bei einer anderen Fragestellung oder bei einer anderen Person mit anderer Perspektive in Luft auflösen kann. In dem Moment, in dem man so eine Art Allgemeingültigkeit eines einzigen Kanons anstatt vieler größerer und kleinerer Sammlungen je nach Fragestellung für sich beanspruchen versucht, wird sowieso das gesamte Konzept eines Kanons sinnlos. Diese Allgemeingültigkeit ist schlicht nicht für alle Rezipienten erreichbar und dann geraten wir definitiv in Bereiche, die schädlich sind.
Spiele müsste man da also in jedem Fall definitiv z.B. nach Genres u.v.m. gliedern, um wenigstens den Versuch unternehmen zu können, Qualität abzubilden. Auf einer ganz breiten Ebene mit einer Fragestellung im Stil von „Was wird oder sollte quasi jedem und jeder in zehn Jahren noch bekannt sein?“ hat aber Qualität oder Exzellenz denke ich sowieso keinen eigenen Platz, da entscheidet Bekanntheit, auch wenn da wahrscheinlich auch trotzdem ein paar exzellente Spiele darunter sein werden. Für alles andere ist denke ich auch die gesamte öffentliche Debatte um digitale Spiele noch nicht weit genug.
#08: christian
Ich würde dir an einer Stelle widersprechen, Nora. Nämlich deinem Argument, dass ein solcher Kanon immer dogmatisch ist. Sicher gibt es solche Listen, deren Ersteller einen absoluten Anspruch erheben. Unsere bisherige Diskussion zeigt aber, dass wir uns sehr wohl der Tatsache bewusst sind, dass dies ein sehr subjektiver Prozess ist, der auch nie als abgeschlossen gelten sollte, sondern einer ständigen Nachbearbeitung und kritischen Reflexion bedarf. Den großen, großen Vorteil sehe ich hier in der Prozeduralität und in der Partizipation, die ja entscheidende Merkmale des Digitalen sind. Zum einen ist ein digitaler Kanon – der für ein digitales Medium ja nur angemessen wäre – niemals abgeschlossen, sondern kann einer steten Bearbeitung oder vielmehr: Optimierung unterliegen. Zum anderen kann man problemlos die Spieler mit einbeziehen, Feedback zu Entscheidungen einholen und über nachträgliche Einträge entscheiden lassen. Das würde nicht nur das Elfenbeinturm-Argument entkräften, sondern auch die Intersubjektivität erhöhen.
Vielleicht hilft es unserer Diskussion, wenn wir mit konkreten Beispielen arbeiten. Ich würde deshalb vorschlagen, ganz von vorn zu beginnen und einmal über den ersten Beitrag unseres Videospiel-Kanons zu debattieren. Welches Spiel sollte historisch an erster Stelle stehen?
#09: sylvio
Die Idee mit den konkreten Beispielen finde ich gut, da ich den Eindruck habe, dass wir das Thema Kanon derzeit noch etwas zu allgemein angehen und der Aspekt „Videospiele“ dabei ein wenig auf der Strecke bleibt. Ich würde aber auch ganz gern noch etwas länger bei Noras These zu den Machtstrukturen verweilen, bei der Frage also, wer die Akteure sind, die zu einer Kanonbildung beitragen. Ich denke aber, wir können versuchen, beide Diskussionen miteinander zu verbinden.
Denn wenn Christian nun die Frage in den Raum stellt, welches Spiel historisch an erster Stelle stehen sollte*, dann beinhaltet das ein Stück weit schon eine Antwort auf Noras Frage weiter oben. In diesem Fall sind es nämlich „wir“, die darüber entscheiden, welches Spiel einem Kanon zugehörig gemacht wird und welche Spiele in welchem Sinne relevant sind. Dabei meine ich mit „wir“ auch nicht nur uns vier, die wir hier diskutieren, sondern auch all die Games-Blogger, Podcaster und Journalistinnen da draußen, die öffentlich über Spiele sprechen und die dabei, durch die Wahl ihrer Beispiele etc., zu einer Kanonbildung beitragen. (Die Betonung liegt hier auch auf “öffentlich”, denn selbstverständlich tragen auch Wissenschaftlerinnen und Entwicklerinnen zu einer Kanonbildung bei, allerdings sind deren Diskurse nicht auf die selbe Weise öffentlich, haben nicht Öffentlichkeit als Hauptziel, und müssten deshalb noch einmal gesondert betrachtet werden.)
*Meine Antwort wäre vermutlich ganz konservativ Pong – und dem Einwand, dass damit noch frühere Spiele, wie zum Beispiel Tennis for Two, ignoriert werden, würde ich entgegenhalten, dass ein Literaturkanon ja auch nicht mit der Erfindung der Schrift beginnt, sondern dort, wo das Medium als Kunstform eine gewisse Qualität und Wirkmächtigkeit (natürlich gemessen am Normativ späterer Epochen) erreicht hat.
Bemerkenswert finde ich an dabei aber, dass Blogger und Journalisten im Internetzeitalter eben auch niemals ganz allein diskutieren, sondern dass der Diskurs für vermeintliche „Laien“ stets geöffnet ist, die jederzeit selbst, in Kommentarspalten, Foren und sozialen Netzwerken, ihre Ansichten kundtun können, oder sogar direkt von der Rolle des aktiv Lesenden und Kommentierenden in die Rolle der Bloggerin oder des Youtubers wechseln können. Das bedeutet natürlich nicht, dass es deshalb keine Unterschiede und kein Gatekeeping mehr gäbe. Ich meine aber, dass durch diese beständige Interaktion und durch den Verlust klarer Hürden heutige Kanons zwangsläufig stärker demokratisiert und stärker popularisiert sind. Auch in anderen Medien: So dürften selbst die biedersten Literaturkritiker kaum mehr bestreiten, dass „Harry Potter“ Kanon der englischen Literatur ist, ich bezweifle aber, dass diese Kanonisierung so schnell und so entschieden vonstatten gegangen wäre, wenn dieser Kanon weiterhin allein in elitären Elfenbeintürmen ausgehandelt würde.
Eventuell lässt sich das Thema Machtstrukturen auch von der anderen Seite her aufrollen: Nicht, welche Spiele sind und werden weshalb Kanon, sondern: welchen Spielen wird, entweder durch Ignoranz oder ganz bewusst, eine Kanonisierung verweigert?
#10: nora
Den Einwand der Prozeduralität gegen die Dogmatikthese aller Kanonisierungen finde ich sehr gut, Christian! Wobei ich glaube, dass du den bisherigen medialen Kanons da ein Stück voraus bist. Im literaturwissenschaftlichen Betrieb etwa wurde erst in der jüngeren Vergangenheit die kritische Frage nach der “vergessenen” Literatur gestellt, hier vor allem auch nach weiblichen Literaten, die es durchaus öfter gab, als es uns der klassische Schiller- und Goethe-Kanon weismachen will. Klar ist, mit sich verändernden kulturgesellschaftlichen Strukturen werden auch normativ bislang als gegeben angenommene Werte, und auch ein Kanon ist ja letztlich ein normativer Wert, der besagt, wie ein Medium “sein soll“ (um Relevanz für sich beanspruchen zu können), reflektiert und neu gedacht werden. Der Vorteil unserer Zeit ist dabei, so bleibt es zumindest zu hoffen, auf jeden Fall der, dass die, ich sage mal, elitäre Schwelle, sinkt, wie Sylvio herausstellt. Durch eine digitale offene Gesellschaft, an der zumindest theoretisch jeder teilhaben kann (stabilen Internetzugang mal vorausgesetzt), öffnet sich auch die Kanonbildung breiteren Partizipationsmöglichkeiten. Wir können und dürfen uns die Frage stellen und im Plenum aller diskutieren: Welche Spiele sind für uns Meilensteine und warum? Das ist sehr viel wert.
Den zweiten Teil unserer Unterhaltung findet ihr in wenigen Tagen auf SPIELKRITIK.com.
In der Zwischenzeit freuen wir uns auf euer Feedback in den Comments. Welche Spiele gehören in euren persönlichen Kanon? Welche Kriterien haltet ihr für relevant? Und wo erzählen wir so richtig Quatsch und merken’s nicht einmal? Schreibt uns!
Update: Der zweite Teil unserer Unterhaltung ist ab sofort online.
Wieder mal ein sehr spannendes Thema.
Ich weiß zwar nicht, ob das noch angesprochen wird in den nachfolgenden Teilen, aber zwei Aspekte sind mir zum Thema Kanonisierung noch eingefallen. Zum einen, welche Spiele gehören in ein Kanon bildendes Werk. Sollte dort jedes Genre und auch Subgenre vertreten sein. Nimmt man dann das erste Spiel seiner Art oder das welches das Genre verbessert oder revolutioniert hat. Würde in so einen Kanon auch ein Candy Crush gehören? Unabhängig von eigenem Geschmack und wie man selbst zu dem Spiel steht, kann man ja, finde ich, nicht bestreiten, dass dieses Spiel einen Einfluss auf die Spielelandschaft hat(te). In dem Zusammenhang dann auch die Frage ob in den Spielekanon nur die Genres abgebildet werden sollen, oder auch Spiele dazugehören die abseits vom Spielerischen eine Bedeutung generiert haben. Gehört zum Beispiel ein Spiel dazu welches auf Pay to Win basiert? Gehören Spiele dazu, die ein Flop waren, egal in welcher Form. Wie zum Beispiel E.T.
Das andere was ich mich Frage, und schon ein wenig angerissen wurde, ist der zeitliche Aspek. Also wie groß ist die Zeitspanne von Spieletiteln die in den Spielekanon gehören. Ich würde sagen, ein Super Mario 64 gehört in den Spielekanon. Je moderner es wird, desto eher ist ja die Frage, was hat die Spielelandschaft wirklich geprägt und was ist vielleicht nur ein Hype. Bei dem jetzigen Hype um Battle Royale stellt sich mir da genau diese Frage. Aber wenn man so überlegt, wären wohl nur Spiele in diesem Kanon, die ein gewisses Alter haben. Aber ich glaube damit würde man viele Spiele ausschließen. Deswegen ist ein Kanon wahrscheinlich auch nichts festes. Also eine gewisse Anzahl von Spielen, die sich auch in 20 Jahren nicht mehr ändert. Ich glaube ein Spielekanon muss sich entwickeln, denn es ist ja nicht abzusehen, was sich noch tun wird.
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Lenny, deinen einwurf über den zeitlichen aspekt halte ich für äusserst interessant & bedeutend.
die spielegeschichte vergleichend zu normieren, ist allein durch seine technische wie künstlerische innovationsdynamik, schnelllebigkeit und monetarisierung kaum möglich.
allein die zielgruppen, vertriebswege und auch die mediale rezeptionsmöglichkeiten haben sich seit dem „beginn“ der gattung videospiel immens weiterentwickelt – wird heute jedes noch so „kleine“ indiespiel mit mehreren beiträgen bedacht, wurden noch zu anfang der 2000er solche titel kaum und wenn nur mit kleinstartikeln gewürdigt.
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interessanter diskurs.
ein „spiele“-kanon wirft die frage nach dessen allgemeingültigkeit auf.
ob ein kanon autokratisch oder demokratisch entsteht, ist dabei sicher ein wesentlicher aspekt, jedoch folgt aus der interaktivität des mediums eine zweite ebene: die des konsumenten.
auf dieser reinen erfahrungsebene des spielers, der den großteil der beteiligten, aber nicht den stärksten meinungstreiber des kanons ausmacht, entstehen referenzen meist aus der persönlichen spielerfahrung, dann der medialen präsenz, weniger der journalistischen nachbereitung.
hierarchisch bauen streng betrachtet erst journalit. kanons auf.
die gültigkeit aus dem wissen um deren inhalt (& nicht bekanntheit) ziehen und damit erst an wirkung (auch im sprachlichen einsatz) gewinnen.
also: „funktioniert“ der kanon über solche ebenen/gruppierungen hinaus?
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Ich musste da direkt an Influencer denken und wie sie dafür Sorgen, dass ein Spiel überhaupt in den Diskurs kommt. Dabei ist es dann entscheidend, welches Spiel in den „Genuss“ kommt die Aufmerksamkeit zu erlangen. Und das Wissen ja auch Publisher und deswegen versuchen sie ihre Flagschiffe zu pushen und über YouTuber oder auch Streamer zu verbreiten. Denn diese bieten eine weitere Verbreitung als der klassische Gamesjournalismus. Das sorgt aber auch dafür, dass es für kleinere Spiele schwieriger wird in die Aufmerksamkeit zu kommen. Natürlich gibt es da noch Ausnahmen, aber die Tendenz zeigt sich meiner Meinung nach deutlich.
Das führt dann, als Konsequenz dazu, dass es nicht anders ist, als in den frühen Zeiten der Spieleberichterstattung. Wie du es auch schon angemerkt hast. Und da ist es dann auch wichtig, dass möglichst alle sich in diesem Kanon wiederfinden.
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Danke für deinen Comment, Pat!
Grundsätzlich ein sehr interessanter Punkt; ein von Spielern geschaffener Kanon würde sicher noch einmal anders ausschauen, nicht nur weil sie andere Spiele wahrnehmen, sondern auch weil sie Spiele _anders_ wahrnehmen. Da brauche ich nur mal zu überlegen, welche Spiele dann in meinem persönlichen Umfeld das Rennen machen würden, und dann wäre der Kanon ein ganz anderer. :D
Ich meine allerdings, dass das kein Videospiel-spezifisches „Problem“ ist, sondern prinzipiell auch auf die Kanonbildung in allen anderen Medien zutrifft; die Interaktivität von Spielen scheint mir dahingehend keinen großen Unterschied zu machen. Vielleicht hab ich dich aber auch noch nicht ganz richtig verstanden. Oder wo würdest du konkret den Unterschied zu anderen Medien festmachen? Darin, dass der „gemeine“ Spieler die Games tatsächlich auch spielt, spielt und spielt, statt wie der Journalist und die Wissenschaftlerin eher auf einer Meta-Ebene zu rezipieren? Meintest du das? Das fände ich dann ebenfalls einen sehr interessanten Punkt, würde aber auch hier sagen: das ist bei anderen Medien nicht anders.
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nochmals hallo sylvio :)
ich wollte mit meiner anmerkung weniger auf die inhaltliche zusammensetzung des kanons heraus (diese wird sicher in den nächsten teilen besprochen).
mir geht es um den sprachlichen einsatz des kanons & die erzielte wirkung auf den „leser“ iws und der daraus resultierenden problematik.
vlt hilft ein bsp: das im gespräch bereits erwähnte ‚dark souls‘.
in einem artikel zum 2016 erschienenen ‚dirt rally‘ hieß es: „… ist das ‚dark souls‘ der rennspiele.“.
hier wurde das spiel klar als synonym für „schwer zu meisterndes spiel“ eingesetzt und weniger aufgrund der inhalts oder qualitäten (ies). ich habe nie einen ‚dark souls‘-teil gespielt, mich auch nie sonderlich mit der serie beschäftigt, trotzdem wusste ich sofort, was mir der autor sagen möchte.
die „begriffsbildund“ findet im kanon seit je statt, so repräsentieren viele titel einfach für ein genre oder eine spielerische invention.
die problematik die sich mm daraus ergibt, ist das wir am ende (und so ist er heute größtenteils in gebrauch) keinen „echten“ spiele-kanon sondern allein ein sprachliches konstrukt erhalten.
oder siehst du das anders?
bei einem punkt muss ich dir aber noch widersprechen: die interaktivität von videospielen übersteigt in einem hohen maß die „klassischer medien“ (natürlich gibt es auch hier ausnahmen).
allein der enstehungsprozess, early-access, dlc-/patch-politik, technolog. entwicklung & differenzierung, die themen emulatoren, remastered, remake usw.
aktuelle titel wie zbsp ’no mans sky‘, ‚gran turismo sport‘ unterscheiden sich stark zw. release und „gepatchter“ fassung.
aber auch „retro“-spiele „leiden“ unter dieser (technolog.) transformation; denken wir nur an das ‚chrono trigger‘ ’steam‘-rerelease-fiasko…
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Der Einwand von Nora zu Machtstrukturen bei der (aktiven) Entwicklung und Ausgestaltung eines Kanons finde ich sehr gut und wichtig. Ich denke allerdings nicht, dass der Einwand durch Partizipation und Prozeduralität ausgehebelt wird, wie Christian sagt.
Auch ein demokratischer, partizpativer Prozess findet ja innerhalb des aktuellen Diskurses statt. Eine Teilhabe am Diskurs, und mögliche Beiträge zu einem partizipativen Kanon, machen gigantische Voraussetzungen an Privilegien. Auch ein partizipativer Kanon wird immer noch ein vergleichsweise elitärer sein. Noch immer sind viele Gruppen vom Diskurs um Spiele recht ausgeschlossen oder stark marginalisiert, beispielsweise weibliche Spielerinnen (hier ein Hinweis an euch: auch ihr verwendet eine exklusive Sprache in eurem Gespräch; Frauen sind – jedenfalls sprachlich – nicht mitgemeint). Aber auch die Voraussetzung an Bildung und Wohlstand sind groß. Personen benötigen Zugang zu Spielen und entsprechenden Abspielgeräten, Zugang zu Computern und Internet und natürlich allgemeinen Zugang zu Bildung.
Es genügt nicht, dass auf dem Papier alle mitmachen dürfen – die Machstrukturen wirken diskursiv trotzdem. Das sind Probleme, die sich selbstverständlich nicht direkt auflösen lassen. Aber ich denke, man muss sie sich weiterhin bewusst machen und kann sie keinesfalls leicht wegdiskutieren.
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Allein die Idee eines Kanons ist denke ich untrennbar mit einem gewissen Elitismus verbunden, da dieser im klassischem Verständnis oftmals in einem akademischen Kontext diskutiert wird und dadurch ein gewisses Vorwissen/eine gewisse Vorbildung voraussetzt. Selbst in einem (fiktivem) Zustand völlig gleich verteilter Bildungschancen, wird eine Kanonbildung wahrscheinlich nie vollständig demokratisch ablaufen, sondern immer gelenkt und bestimmt werden von jenen, die, aus welchen Gründen auch immer, als Experten angesehen werden (oder sich selbst als diese sehen) und damit auch wieder von Machtbeziehungen.
Deine Einstellung zu den vorherrschenden gesellschaftlichen Diskursen teile ich, auch die Tatsache, dass man sich dieser ständig bewusst sein sollte und sie in Diskussionen auf keinen Fall ausklammern darf.
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Sehe das ganz ähnlich und würde vermutlich sogar soweit gehen zu sagen, dass ein vollständig demokratisierter Kanon nicht länger ein Kanon wäre. Ob man aufgrund dessen das Konzept Kanon von Grund auf als überholt oder schädlich betrachten sollte, ist eine andere Frage (und Nora deutete die möglichen Gefahrenpotentiale auch schon an). Aber ich zumindest stelle an einen Kanon (egal in welchem Medium) den Anspruch eines gewissen Expertentums; ein Kanon soll mir (als Konsument der darin kanonisierten Werke) einen besseren, interessanteren, anspruchsvolleren, vielfältigeren, was auch immer, Überblick über ein Medium verschaffen als die Gesamtheit dessen, was ich kennenlernen würde, wenn ich einfach dem Echo der „Massen“ folgen würde.
Ob der Kanon diesem Anspruch gerecht wird, steht natürlich auf einem anderen Blatt, und problematisch ist dabei, dass ich mit der Bezugnahme auf einen Kanon die Macht der „Deutungselite“ zugleich ein Stück weit festige. Andererseits halte ich die Kenntnis des jeweiligen Kanons aber für unerlässlich, um dazu Alternativen, Gegenpositionen und Ergänzungen formulieren zu können. Eine kritische Kanonrezeption, die sich der elitären Natur des Kanonisierungsprozesses und der dabei ungleich verteilten Kräfteverhältnisse stets bewusst ist und den Kanon im Zuge der Rezeption sogleich hinterfragt, scheint mir daher (zumindest für mich persönlich) der ideale Umgang mit einem Kanon.
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Ich frage mich an der Stelle auch einfach, ob es nicht nur an einem allgemeinen Bewusstsein dafür mangelt, dass ein Kanon per se ein soziales Konstrukt ist. In dem Moment, in dem allen Beteiligten absolut klar ist, dass das Konzept Kanon seine Fehler und Ausschlussmechanismen von bestimmten Gruppen abhängig von einer „Elite“ hat, die die Deutungshoheit für sich beansprucht, sind diese Mechanismen nur ein halb so großes Problem, weil allen klar sein sollte, das dieser Kanon nur eine Perspektive abbildet, unter der z.B. über Spiele gesprochen wird. Ohne dieses Bewusstsein haben wir eben dieses alte Problem, das wir ja auch im nächsten Teil dann angesprochen haben, dass z.B. Sims, das für sich eine riesige Reichweite hat, gerne mal abgewertet wird, weil es eben aus der Perspektive einer gewissen Deutungselite gerne mal als uninteressant und unbedeutend abgetan wird, woraufhin wieder gerade viele weibliche Spielerinnen zögern sich als „Gamerin“ o.ä. zu bezeichnen bzw. wodurch das Gatekeeping z.B. gegenüber Frauen verstärkt wird usw. Dieses Gatekeeping per Kanonisierung funktioniert nur über eine Art autoritäre Haltung, die einen bestimmten Kanon welcher Gruppe auch immer als quasi gottgegben ansieht. Fällt das weg, könnte ein Kanon immer noch die Funktion einer Diskussionsbasis erfüllen, würde aber an Gefahr einbüßen, denn dass man einen gewissen Grundelitarismus dabei ganz weg bekommt, bezweifle ich auch.
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Ganz wunderbar auf den Punkt gebracht.
Ich würde noch anfügen, dass ein Elitarismus ja nicht notwendigerweise konservativ oder exklusiv sein muss, sondern aus seiner privilegierten Position heraus die Möglichkeit hat, solche Werke auszuwählen oder solche Stimmen einzubeziehen, die auf dem „freien Markt“ (und damit meine ich nicht nur den ökonomischen) marginalisiert werden.
Oder um den Unterschied mal so darzustellen: Was ich in der Schule in Sachen Literatur kennengelernt habe, war ein unglaublich konservativer und limitierter Kanon. Der Korpus britischer Literatur, den ich hingegen an der Uni durch Dozenten etc. vermittelt bekommen habe, war mit großer Sicherheit weitaus inklusiver, pluralistischer, alternativer und progressiver, als die ganze Bandbreite dessen, was ich ohne diese „Elitenselektion“ wahrgenommen oder schätzen gelernt hätte, weil ich das z.B. in der Buchhandlung nie gefunden, oder zwar gefunden, aber vorurteilsbehaftet darauf herabgesehen hätte.
Elitarismus kann also in beide Richtungen wirken, kann sich der real existierenden Pluralität verschließen oder kann sie sichtbar machen.
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