Der SPIELKRITIK slowtalk: Vier Leute unterhalten sich über ein Thema – mindestens eine ganze Woche lang. Ein Gespräch, das Zeit lässt – zum Recherchieren, Nachdenken und in Worte packen. Die Idee dahinter: die Dynamik und Perspektivenvielfalt einer moderierten Diskussion mit der inhaltlichen Tiefe, der Genauigkeit und dem sprachlichen Niveau eines sorgfältig formulierten Artikels zu verbinden.

Für die dritte Ausgabe sprach ich mit Nora Beyer, Aurelia Brandenburg und Christian Neffe vier Wochen lang über das Thema: „Kanon Fodder: Zweck, Aufbau und Inhalt eines Videospiel-Kanons“. Im ersten Teil unserer Unterhaltung geht es vor allem um die Frage nach den Kriterien für eine Kanonisierung und um die Machtstrukturen, die den Kanon bestimmen. Viel Spaß beim Lesen! [sk]


#01: sylvio

Liebe Leserinnen und Leser, liebe Gäste! Wer kennt sie nicht, die Spiele, die „in keiner Sammlung fehlen“ dürfen, die man kennen und gespielt haben „muss“?

Sicherlich denken wir, wenn wir an das Jahr 2005 zum Beispiel denken, alle direkt an Konamis Enthusia, an Rockstars The Warriors und American McGees Scrapland. An Pariah vielleicht? Nein, auch nicht? Hmm. Warum sind wir so verwundert, dass Bulletstorm remastered wurde, während wir bei Okami und Shadow of the Colossus auch noch die Drittveröffentlichung in Ehren halten? Wieso können Spielejournalisten auf der ganzen Welt offenbar erwarten, dass die Leser schon wissen, was damit gemeint ist, wenn sie einmal mehr ein x-beliebiges Spiel mit Dark Souls vergleichen? Und was hat eigentlich Kirby’s Dream Course auf dem SNES Mini zu suchen?

Solchen, aber auch sehr viel grundsätzlicheren Fragen möchten wir nachgehen, in der dritten Ausgabe des SPIELKRITIK slowtalks. „Kanon Fodder: Zweck, Aufbau und Inhalt eines Videospiel-Kanons“, lautet das Thema diesmal. Doch bevor wir in die Diskussion einsteigen, möchte ich unsere auch diesmal ganz famosen Gäste begrüßen. Jeweils zum ersten Mal dabei, aber durch ihre GASTSPIELER-Artikel bereits bei Spielkritik bekannt, sind Nora Beyer, Aurelia Brandenburg und Christian Neffe. Hallo alle miteinander, schön, dass ihr Lust habt, über dieses spannende Thema zu sprechen!

Nora: Hallo zusammen! Danke für die Einladung.

Über Nora Beyer: Nora ist der weltgrößte Fan von Baldur’s Gate, sie hat einen M.A. in Ethik der Textkulturen und interessiert sich für Metathemen und Kontroverses. Aus der gedruckten GameStar ist sie kaum mehr wegzudenken – und demnächst auch aus der GAIN. Das Dichten, Zeichnen und Mountainbiken sind nur einige ihrer anderen Talente.

Aurelia: Hi, alle miteinander! Ich freue mich, dabei zu sein.

Über Aurelia Brandenburg: Aurelia studiert in Würzburg Geschichte und Digital Humanities. Sie hat eine Schwäche für das Mittelalter und schon früh lief auf ihrem Laptop alles, was ein irgendwie historisches oder Fantasy-Setting hatte. Geschichte und Geschichten, Geschichte in Geschichten und die Erzählweise von Geschichten beschäftigen die erfahrene Bloggerin auch auf Ihrem Buch-, Film- und Games-Blog Geekgeflüster.

Christian: Hallo auch von mir und vielen Dank für die Einladung. Ich freue mich auf ein produktives Gespräch.

Über Christian Neffe: Filmexperte Christian hat Medienwissenschaften studiert und ist nun als Volontär der Leipziger Volkszeitung auf dem bestem Weg zum „richtigen Journalisten“. Als Gamer ist er viel herumgekommen: einstiger Nintendo-Fanboy, dann Xbox, neuerdings PC – nur generell viel zu wenig Zeit für Spiele. Dass es mit seiner anderen Leidenschaft, Filmen, besser läuft, kann man auf seinem umfangreichen Blog verfolgen.

Darauf freue ich mich auch. Dann bin ich mal gespannt, ob wir gemeinsam zu neuen Erkenntnissen gelangen können!

Ich möchte gern mit einer Beobachtung beginnen, die mich neben anderen auf unser heutiges Thema gebracht hat, und zwar das – wie ich finde – erdrückende Übergewicht einiger weniger Spieletitel in der öffentlichen Diskussion. Mir ist das vor allem bei Games-Podcasts aufgefallen, in denen sich Gespräche eher spontan entwickeln, wie zum Beispiel bei Auf ein Bier, bei Doomian oder Pixeldiskurs. Es sind gefühlt immer wieder dieselben (und in absoluten Zahlen relativ wenige unterschiedliche) Spieletitel, die dort immer und immer wieder als Referenzen und gemeinsame Diskussionsgrundlage herangezogen werden. Das ist nicht nur Dark Souls, das ist auch Life Is Strange, The Last of Us, Horizon: Zero Dawn, der Tomb Raider Reboot… Und selbst ein Zelda: Breath of the Wild offenbar schon wieder weniger.

Ich habe daher den Eindruck, dass einige wenige Titel ein solches Übergewicht im öffentlichen Diskurs haben, wie es in keinem gesunden Verhältnis zum großen Rest steht. Seht ihr das ähnlich? Wenn ja, woran liegt das? Läuft hier etwas schief, ist das Medium noch immer zu “arm” um mehr dauerhaft diskussionswürdige Titel hervorzubringen, oder zu sehr auf große Hypes fixiert? Oder beobachten wir hier einen ganz gewöhnlichen (und sinnvollen und wichtigen) Prozess von Kanonbildung?

#02: christian

Ich denke, das ist ein ganz normaler Prozess wie man ihn auch in anderen Kulturdiskursen vorfindet. Egal ob wir über Spiele, Filme, Musik oder Literatur reden: Wir brauchen Referenzpunkte, an denen sich möglichst viele Menschen orientieren können. Da eignen sich solche Leuchtturm-Werke eben am besten, weil sie den meisten schon bekannt sind und als entsprechende Vergleichsgröße dienen können. Das bringt natürlich das Problem mit sich, dass es vornehmlich die kommerziell erfolgreichen und nicht zwangsläufig die Titel sind, die für die Entwicklung des Mediums am relevantesten waren, welche den Diskurs dominieren.

Letztlich glaube ich aber schon, dass das nicht unwesentlich zur Bildung eines Videospiel-Kanons beitragen kann – oder sogar, dass diese Diskussionen als wichtigste Grundlage dafür dienen können. Meines Erachtens ist eine starke öffentliche Wahrnehmung eines Titels auch Jahre nach seinem Erscheinen der wichtigste Anhaltspunkt dafür, ob ein Werk einen Platz in einem solchen Kanon verdient hat. Oder welche Kriterien seht ihr dort?

#03: aurelia

Vielleicht müssen wir auch einfach zwischen einem Kanon und einer Geschichte der Videospiele scharf unterscheiden. Sieht man zum Beispiel einen Kanon als Sammlung wichtiger, auch entscheidend im Sinne von viel beachteten und bekannten Werken, dann machen AAA-Spiele eben zwangsweise einen entscheidenden Teil davon aus. Romane haben ja genauso eher eine Chance darauf, als langfristig bedeutende oder moderne Klassiker gesehen zu werden, wenn sie eben in einem Verlag statt per Selfpublishing veröffentlicht und später dann viel in der Mainstream-Presse statt nur in der kleinsten Nische besprochen werden.

So eine öffentliche Aufmerksamkeit sagt aber natürlich noch nichts darüber aus, wie einflussreich etwas tatsächlich und unter welchem Aspekt ist. Manchmal ist ein für einen Kanon wichtigeres Werk auch nur deshalb da wichtiger, weil es eine andere Idee aufgegriffen und erfolgreich oder bekannt gemacht hat. Der Ursprung dieser Idee ist für die Geschichte des Mediums oder Genres interessant, aber nicht zwingend für den Kanon. Im Verhältnis hat denke ich genauso kaum jemand Infiniminer gespielt wie Sheridan Le Fanus “Carmilla” gelesen, sondern stattdessen das kanonisch wichtigere Minecraft gespielt bzw. dann eben in literarischer Entsprechung “Dracula” gelesen. Ich sehe da also auch in einem Kanon aus zum Beispiel rein kommerziell erfolgreichen Werken bzw. dann eben hier Videospielen nicht zwingend ein Problem. Und historische Bedeutung klären ohnehin immer die Experten am Ende in der Nische der Nische.

#04: christian

Da stimme ich dir zu: Entscheidend ist nicht, wer etwas erfunden hat, sondern wer es etabliert und populär gemacht hat. Auch wenn der Erfinder zumindest Erwähnung finden sollte… Wir erleben das ja gerade ganz aktuell bei der Debatte um das große Trend-Thema Battle Royale: PlayerUnknown’s Battlegrounds beansprucht da eine gewisse Urheberschaft für sich und hat sogar Epic Games wegen Fortnite verklagt. PUBG hat das Genre Battle Royale allerdings nicht erfunden. Die Idee gibt es in der Popkultur schon mindestens seit dem 18 Jahre alten Film und auch spielerisch wurde es schon vorher umgesetzt, beispielsweise in einer Minecraft-Mod. PUBG hat ihm dann zwar zum großen Durchbruch verholfen, wird nun aber von Fortnite überholt. Welches dieser Werke gehört nun in einen möglichen Kanon?

Dieser Frage werden wir uns, denke ich, immer wieder stellen müssen und letztlich keine eindeutige Antwort darauf finden. Ich wage auch zu bezweifeln, dass wir uns auf eindeutige, objektive Kriterien festlegen können, nach denen entschieden werden kann, was in einen Kanon gehört. Shadow of the Colossus beispielsweise war weder kommerziell sonderlich erfolgreich, noch hat es eine Welle von Nachahmern produziert. Trotzdem gehört es meines Erachtens in einen solchen Kanon.

#05: sylvio

Es scheint zumindest einen Grund zu geben, warum das Battle Royal-Genre erst mit PUBG ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte. Ich bin daher auch ganz bei euch, wenn es darum geht zu sagen, dass ein Kanon keine „Innovationsgeschichte“ sein kann. Deshalb ist DMAs Body Harvest auch immer eine schöne Fußnote, und GTA I und II verdienen als Ursprünge des Franchises ihre Erwähnung – aber das kanonische Spiel in dieser Reihe ist mit Sicherheit GTA III (alternativ vielleicht auch Vice City oder San Andreas, aber das sind Feinheiten, abhängig davon, ob man Originalität oder Vollendung höher schätzen möchte).

Für mich noch nicht sehr überzeugend ist das Kriterium der Popularität oder des kommerziellen Erfolgs. Natürlich, ein „Mindestbekanntheitsgrad“ muss gegeben sein, damit ein Spiel im Kanonisierungsprozess nicht von vornherein außen vor ist, und wenn ein größerer Publisher dahinter steht, ist diese Einstiegshürde schon einmal genommen. Ich habe aber nicht den Eindruck, dass es in der Retrospektive noch von großer Bedeutung ist, ob ein Werk ein wirtschaftlicher Flop oder ein Millionenerfolg war. Es scheint schon zu genügen, dass ein Werk diese Mindestpopularität einigermaßen zeitnah erreicht hat: Das ist etwa bei Ico geschehen, das noch weniger als Shadow of the Colossus die Kriterien von Erfolg und direkten Nachahmern erfüllt, und in anderen Medien ist sicherlich die Literatur der europäische Moderne ein treffendes Beispiel, die bei ihrem Erscheinen eigentlich von kaum irgendwem gelesen wurde. Ich denke aber auch, dass es eine Halbwertszeit gibt, innerhalb derer ein Werk in seiner Bedeutung „entdeckt“ werden muss, da verspätete Kanonisierungen selten sind. Oder fallen euch viele Werke aus anderen Medien ein, die tatsächlich erst Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte nach ihrer Schöpfung ins Gespräch kamen und dann trotzdem kanonisiert wurden? Das scheint mir die absolute Ausnahme.

Ein Kriterium, das bisher noch nicht so durchkam, für mich aber ganz zwingend ist, das ist schlicht die Exzellenz der einzelnen Titel. Auch deshalb ist es ja oft nicht der Begründer einer neuen Idee, der den Sprung in den Kanon schafft, sondern das Werk, das die Idee zur Reife bringt. Wenn die Qualität eines Werks nur im Verhältnis zu anderen Werken (also in den Währungen Innovation und künstlerischer Einfluss) oder im Verhältnis zu seinem kommerziellen Erfolg und zeitgeschichtlichen Einfluss zu finden ist, das Werk selbst aber gar nicht gelungen ist, gehört es in meinen Augen nicht in einen (allgemeinen) Kanon, an den ich den Anspruch stellen würde, dass alle enthaltenen Werke von hervorragender Qualität sind, eventuell sogar von einer Art Vollkommenheit, je enger der Kanon gefasst ist. Dass Exzellenz möglicherweise noch stärker eine subjektive Kategorie ist als Einfluss und Erfolg – das ist natürlich klar.

#06: nora

Ich finde dein Stichwort zur Subjektivität hier sehr entscheidend. Letztlich unterliegen wir doch einem klassischen Zirkelschluss, wenn wir die öffentliche Wahrnehmung, wie Christian meinte, als Maßstab für die Relevanz eines Spiels und damit dessen Zugehörigkeit zu einem möglichen Kanon betrachten. Die öffentliche Wahrnehmung wird bei AAA-Spielen schlicht durch deren immensen Marketingapparat, in den Unsummen investiert werden, ja erst generiert. Kritisch gesehen scheint sie mir also kaum als geeigneter Maßstab für eine Kanonisierung. Sicherlich aber haben kommerziell erfolgreiche Spiele, ebenso wie Kino-Blockbuster, ihre Berechtigung und allein der kommerzielle Erfolg und/oder die öffentliche Wahrnehmung sind natürlich auch kein pauschales Ausschlusskriterium, sonst setzen wir uns selbst ganz schnell in den Elfenbeinturm. Was ich aber auf jeden Fall zur Diskussion stellen wollen würde ist die Frage nach der Subjektivität, genauer: Wer entscheidet denn eigentlich darüber, was einem Kanon zugehörig gemacht wird und was quasi aus dem weltgeschichtlichen Archiv als Randnotiz schließlich wegbröckelt? Wer entscheidet denn, welche Spiele relevant sind und welche nicht? Und relevant in welchem Sinne eigentlich? Technologisch? Inhaltlich? Ästhetisch? Wenn wir uns dieser Frage annähern treffen wir notwendigerweise auf Machtstrukturen. Denn jeder Kanon ist letztlich dogmatisch und wird gesetzt. Die Frage ist von wem und wozu und ob diese Art von “blickwinkelgebender“ Macht (wir sehen letztlich nur das, was in der breiten Öffentlichkeit behandelt wird) nicht auch ein großes Gefahrenpotential birgt.

#07: aurelia

Guter Punkt, wobei man genau da auch einhaken könnte, dass so gesehen, kein Kanon jemals wirklich eine Zusammenstellung von Werken ist, die man ernsthaft rezipiert haben muss oder soll, sondern nur eine, die eine bestimmte Gruppe für – in welcher Form auch immer – wertvoll erachtet hat. Das schließt automatisch Unmengen an nicht zwingend schlechten Werken aus, sei es wegen des Elfenbeinturms, den du ansprichst, Nora, oder weil etwas nicht die große Presse bekommt, die es vielleicht verdient haben könnte. Jeder als quasi allgemeingültig definierter Kanon ist per se schlicht ein Konstrukt, dessen Sinn sich schon nur bei einer anderen Fragestellung oder bei einer anderen Person mit anderer Perspektive in Luft auflösen kann. In dem Moment, in dem man so eine Art Allgemeingültigkeit eines einzigen Kanons anstatt vieler größerer und kleinerer Sammlungen je nach Fragestellung für sich beanspruchen versucht, wird sowieso das gesamte Konzept eines Kanons sinnlos. Diese Allgemeingültigkeit ist schlicht nicht für alle Rezipienten erreichbar und dann geraten wir definitiv in Bereiche, die schädlich sind.

Spiele müsste man da also in jedem Fall definitiv z.B. nach Genres u.v.m. gliedern, um wenigstens den Versuch unternehmen zu können, Qualität abzubilden. Auf einer ganz breiten Ebene mit einer Fragestellung im Stil von „Was wird oder sollte quasi jedem und jeder in zehn Jahren noch bekannt sein?“ hat aber Qualität oder Exzellenz denke ich sowieso keinen eigenen Platz, da entscheidet Bekanntheit, auch wenn da wahrscheinlich auch trotzdem ein paar exzellente Spiele darunter sein werden. Für alles andere ist denke ich auch die gesamte öffentliche Debatte um digitale Spiele noch nicht weit genug.

#08: christian

Ich würde dir an einer Stelle widersprechen, Nora. Nämlich deinem Argument, dass ein solcher Kanon immer dogmatisch ist. Sicher gibt es solche Listen, deren Ersteller einen absoluten Anspruch erheben. Unsere bisherige Diskussion zeigt aber, dass wir uns sehr wohl der Tatsache bewusst sind, dass dies ein sehr subjektiver Prozess ist, der auch nie als abgeschlossen gelten sollte, sondern einer ständigen Nachbearbeitung und kritischen Reflexion bedarf. Den großen, großen Vorteil sehe ich hier in der Prozeduralität und in der Partizipation, die ja entscheidende Merkmale des Digitalen sind. Zum einen ist ein digitaler Kanon – der für ein digitales Medium ja nur angemessen wäre – niemals abgeschlossen, sondern kann einer steten Bearbeitung oder vielmehr: Optimierung unterliegen. Zum anderen kann man problemlos die Spieler mit einbeziehen, Feedback zu Entscheidungen einholen und über nachträgliche Einträge entscheiden lassen. Das würde nicht nur das Elfenbeinturm-Argument entkräften, sondern auch die Intersubjektivität erhöhen.

Vielleicht hilft es unserer Diskussion, wenn wir mit konkreten Beispielen arbeiten. Ich würde deshalb vorschlagen, ganz von vorn zu beginnen und einmal über den ersten Beitrag unseres Videospiel-Kanons zu debattieren. Welches Spiel sollte historisch an erster Stelle stehen?

#09: sylvio

Die Idee mit den konkreten Beispielen finde ich gut, da ich den Eindruck habe, dass wir das Thema Kanon derzeit noch etwas zu allgemein angehen und der Aspekt „Videospiele“ dabei ein wenig auf der Strecke bleibt. Ich würde aber auch ganz gern noch etwas länger bei Noras These zu den Machtstrukturen verweilen, bei der Frage also, wer die Akteure sind, die zu einer Kanonbildung beitragen. Ich denke aber, wir können versuchen, beide Diskussionen miteinander zu verbinden.

Denn wenn Christian nun die Frage in den Raum stellt, welches Spiel historisch an erster Stelle stehen sollte*, dann beinhaltet das ein Stück weit schon eine Antwort auf Noras Frage weiter oben. In diesem Fall sind es nämlich „wir“, die darüber entscheiden, welches Spiel einem Kanon zugehörig gemacht wird und welche Spiele in welchem Sinne relevant sind. Dabei meine ich mit „wir“ auch nicht nur uns vier, die wir hier diskutieren, sondern auch all die Games-Blogger, Podcaster und Journalistinnen da draußen, die öffentlich über Spiele sprechen und die dabei, durch die Wahl ihrer Beispiele etc., zu einer Kanonbildung beitragen. (Die Betonung liegt hier auch auf “öffentlich”, denn selbstverständlich tragen auch Wissenschaftlerinnen und Entwicklerinnen zu einer Kanonbildung bei, allerdings sind deren Diskurse nicht auf die selbe Weise öffentlich, haben nicht Öffentlichkeit als Hauptziel, und müssten deshalb noch einmal gesondert betrachtet werden.)

*Meine Antwort wäre vermutlich ganz konservativ Pong – und dem Einwand, dass damit noch frühere Spiele, wie zum Beispiel Tennis for Two, ignoriert werden, würde ich entgegenhalten, dass ein Literaturkanon ja auch nicht mit der Erfindung der Schrift beginnt, sondern dort, wo das Medium als Kunstform eine gewisse Qualität und Wirkmächtigkeit (natürlich gemessen am Normativ späterer Epochen) erreicht hat.

Bemerkenswert finde ich an dabei aber, dass Blogger und Journalisten im Internetzeitalter eben auch niemals ganz allein diskutieren, sondern dass der Diskurs für vermeintliche „Laien“ stets geöffnet ist, die jederzeit selbst, in Kommentarspalten, Foren und sozialen Netzwerken, ihre Ansichten kundtun können, oder sogar direkt von der Rolle des aktiv Lesenden und Kommentierenden in die Rolle der Bloggerin oder des Youtubers wechseln können. Das bedeutet natürlich nicht, dass es deshalb keine Unterschiede und kein Gatekeeping mehr gäbe. Ich meine aber, dass durch diese beständige Interaktion und durch den Verlust klarer Hürden heutige Kanons zwangsläufig stärker demokratisiert und stärker popularisiert sind. Auch in anderen Medien: So dürften selbst die biedersten Literaturkritiker kaum mehr bestreiten, dass „Harry Potter“ Kanon der englischen Literatur ist, ich bezweifle aber, dass diese Kanonisierung so schnell und so entschieden vonstatten gegangen wäre, wenn dieser Kanon weiterhin allein in elitären Elfenbeintürmen ausgehandelt würde.

Eventuell lässt sich das Thema Machtstrukturen auch von der anderen Seite her aufrollen: Nicht, welche Spiele sind und werden weshalb Kanon, sondern: welchen Spielen wird, entweder durch Ignoranz oder ganz bewusst, eine Kanonisierung verweigert?

#10: nora

Den Einwand der Prozeduralität gegen die Dogmatikthese aller Kanonisierungen finde ich sehr gut, Christian! Wobei ich glaube, dass du den bisherigen medialen Kanons da ein Stück voraus bist. Im literaturwissenschaftlichen Betrieb etwa wurde erst in der jüngeren Vergangenheit die kritische Frage nach der “vergessenen” Literatur gestellt, hier vor allem auch nach weiblichen Literaten, die es durchaus öfter gab, als es uns der klassische Schiller- und Goethe-Kanon weismachen will. Klar ist, mit sich verändernden kulturgesellschaftlichen Strukturen werden auch normativ bislang als gegeben angenommene Werte, und auch ein Kanon ist ja letztlich ein normativer Wert, der besagt, wie ein Medium “sein soll“ (um Relevanz für sich beanspruchen zu können), reflektiert und neu gedacht werden. Der Vorteil unserer Zeit ist dabei, so bleibt es zumindest zu hoffen, auf jeden Fall der, dass die, ich sage mal, elitäre Schwelle, sinkt, wie Sylvio herausstellt. Durch eine digitale offene Gesellschaft, an der zumindest theoretisch jeder teilhaben kann (stabilen Internetzugang mal vorausgesetzt), öffnet sich auch die Kanonbildung breiteren Partizipationsmöglichkeiten. Wir können und dürfen uns die Frage stellen und im Plenum aller diskutieren: Welche Spiele sind für uns Meilensteine und warum? Das ist sehr viel wert.

Den zweiten Teil unserer Unterhaltung findet ihr in wenigen Tagen auf SPIELKRITIK.com.

In der Zwischenzeit freuen wir uns auf euer Feedback in den Comments. Welche Spiele gehören in euren persönlichen Kanon? Welche Kriterien haltet ihr für relevant? Und wo erzählen wir so richtig Quatsch und merken’s nicht einmal? Schreibt uns!

Update: Der zweite Teil unserer Unterhaltung ist ab sofort online.