Dass Rätsel in klassischen Adventures gern einer ziemlich eigenwilligen Logik folgen, ist kein Geheimnis. Auch The Rivers of Alice bildet da keine Ausnahme, allerdings hat das Point-and-Click-Adventure der spanischen Delirium Studios ein triftiges Argument auf seiner Seite: Inspiration für die Narration und Rätsel in Alice ist die verschlungene, unweigerlich flüchtige Logik nächtlicher Träume. Eine Logik, die oft nur bis zur nächsten Wegbiegung Bestand hat und sich spätestens dann in Schall und Rauch auflöst, wenn der Träumende erwacht und das Nachglimmen der Traumlogik von den Kausalitäten der Wirklichkeit hinweggeblasen wird.
Schlaftrunkenen Schrittes wandern wir mit Alice durch surreale Vignetten mit femininem Flair, handgezeichnet mit Tusche, Bleistift und Wasserfarben. Bilder auch im übertragenen Sinn, die stets auch Rätsel sind – auf der Gameplay-Ebene ebenso wie auf der interpretatorisch-emotionalen. Denn zu Deutungen laden sie allemal ein: der Fluss, die Höhle, das Stundenglas, der Bootssteg und der Keller, die Spiegel und schließlich der Turm. Freud hätte seine Freude, auch weil die einzelnen Bilder und die Beziehungen zwischen ihnen stets vage und absichtslos genug bleiben, um das Gefühl des Träumens glaubwürdig zu vermitteln. Fantastisches und Alltägliches stehen eng beieinander und selbst das spielübergreifende Metathema, die Ängste der Protagonistin, schwebt nur sanft im Hintergrund.
Damit unterscheiden sich die Bilder in Alice von den meisten anderen medialen Darstellungen des Träumens, seien es kitschige Fantasywelten, seelische Innenansichten mit kalkulierter Bedeutungsschwere oder Albtraumdarstellungen in fader Horrorfilmästhetik. Aber auch von ihrer berühmten Namensvetterin des neunzehnten Jahrhunderts unterscheidet sich unsere Alice an den Flüssen: An die Stelle von Nonsense und den dahinter verborgenen philosophischen und mathematischen Metaphern treten in The Rivers of Alice künstlerische Bearbeitungen kindlicher Emotionen und tiefenpyschologischer Archetypen. Interessant ist dabei auch, dass unsere Protagonistin eine Welt durchquert, in der das Dunkle und das Widerwärtige zwar allemal existieren, das Spiel dabei aber ohne eine Gut-Böse-Dichotomie auskommt (und mich damit ein wenig an folkloristische Fabeln wie Year Walk erinnerte).
Eine wunderbare Musikuntermalung mit spanischem Flair gibt es obendrauf: melodisches Bienensummen, verträumtes Gitarrenspiel oder auch ein industriell anmutendes, bedrohliches Stampfen, teils exklusiv komponiert von der Indie-Rockband Vetusta Morla. Visuell würde Alice auf Animationsfilmfestivals sicher keinen Preis für Originalität gewinnen; in digitalen Spielen, selbst im Indie-Bereich, ist der verwendete Stil und die ihm eigene Wärme aber nach wie vor eher selten. Technologisch recht primitiv und im Ergebnis oft sehr statisch, spiegeln sich Persönlichkeit und Alter der Protagonistin in der Grafik dennoch gut wieder, die die verschiedenen Sinnbilder zusammenhält, von denen sich erstaunlich viele dauerhaft in meiner Erinnerung festsetzen konnten.
In seinen besten Momenten ist The Rivers of Alice wie ein erholsamer Schlaf und eine willkommene Auszeit von den kinetischen Herausforderungen, der Komplexität und der Bedeutungsschwere anderer Spiele. Sogar die Hilfefunktion in Gestalt einer träumenden Schnecke mit dem treffenden Namen Sloth fügt sich ins ludonarrative Gesamtbild ein. Da schmerzt es umso mehr, dass Alice unter einigen kleineren Makeln leidet, die unsere Nachtruhe vor allem in der zweiten Spielhälfte immer wieder stören: Unverhältnismäßig schwierige, dem Spielfluss und der Spielästhetik widerstrebende Verschiebepuzzles etwa, ein langwieriges, auf Melodienerkennung fußendes Rätsel, das für die unmusikalischen Ohren meiner Frau und mir beim besten Willen nicht zu lösen war, sowie – zumindest in der von mir gespielten Wii U-Fassung – eine Anzahl ungepatchter Bugs, die mich mehrere Male zum Hard-Reset der Konsole zwangen.
In solchen Momenten fühlen wir uns wie Alice an den wenigen Punkten im Spiel, an denen sie scheitern und „sterben“ kann: Aus den Träumen gerissen und der Illusion beraubt – doch solange die Nacht noch nicht vorüber ist, schließen wir gern noch einmal die Augen. Wer in Eile ist und voller Tatendurst, der wird an der Seite von Alice ohnehin nur wenig Freude finden. [sk]
Eine kürzere Version dieses Artikel erschien im Februar 2018 bei Videogametourism.at als Gastbeitrag zum zweiten „Pile of Fame“, in dem monatlich und mit wechselnden Gästen Spiele vorgestellt werden, „die auch ein bisschen Fame verdient hätten“. Alle Ausgaben der lesenswerten Reihe finden sich hier.
Gespielt wurde die Wii U-Fassung des Spiels. Die Versionen für Windows und Mac sind aktuell noch bis zum 5. Juli im Steam-Summer Sale für 1,99 Euro statt 7,99 Euro erhältlich. Zur offiziellen Website der Entwickler inkl. Trailer geht es hier.
The Rivers of Alice – Extended Edition
(auch: Die Flüsse von Alice: Erweiterte Version)
Delirium Studios 2015 (2012)
Nintendo Wii U, Windows PC, Mac, Mobile
Musik: Vetusta Morla