Ein Gastbeitrag von Marc Wahlen
Im Action-Adventure AER: Memories of Old, aus dem Hause des schwedischen Indie-Entwicklerstudios Forgotten Key begeben wir uns auf eine Reise durch eine verlassene Welt, gelegen auf schwebenden Inseln über den Wolken. Auf der Reise durch die Heimat von Nomadenstämmen fliegen wir von Insel zu Insel, lassen die Ästhetik des Spiels auf uns wirken und tauchen ein, in eine geheimnisvolle Geschichte eines besonderen Inselstaates, der mehr mit unserer eigenen Vergangenheit gemeinsam hat, als man anfangs vermuten mag.
Bis vor kurzem lief im Aachener Ludwig Forum die Ausstellung Digital Games, welche sich unter dem Titel Kunst und Computerspiele mit dem „Stellenwert des digitalen Spiels als Medium sowie [dem] Phänomen des Spielerischen“ befasst hat. Dabei wurde bei der Auswahl der Spiele bewusst darauf geachtet, auf konventionelle Videospiele zu verzichten und stattdessen das Pendant, das sogenannte Countergaming in den Fokus zu rücken. Spiele, die in diesem Bereich verortet sind, zeichnen sich dadurch aus, dass sie weitestgehend ohne inhärente Gewalt auskommen, oder kein festes Spielziel besitzen, und die somit das flow-Phänomen (Csikszentmihalyi, 2010) in den Vordergrund treten lassen. Als renommiertes Beispiel war Journey ein Teil dieser Ausstellung. Allerdings setzte man auch auf weniger bekannte Titel, wie beispielsweise das Spiel Flower, welches im Übrigen vom gleichen Entwicklerstudio entwickelt wurde.
In Flower begibt sich der Spieler in der First-Person-Perspektive auf die Reise durch die Spielwelt und das ungewöhnlicherweise in der Verkörperung des Windes. Ja richtig, man steuert den Wind, der durch die Wiesen jagt. Dabei trägt man von Anfang an ein paar Blumenblätter in einem Windsog um sich herum. Die Anzahl der Blätter vermehrt sich, wenn man weitere Blumen passiert. Das Spiel setzt somit die Spielwelt auf eine ganz besondere Weise in Szene. Im Vordergrund steht in Flower das Spielen mit dem bereits erwähnten flow. Hierbei wird deutlich, dass die First-Person-Perspektive keinesfalls für Ego-Shooter oder andere Actionspiele reserviert sein sollte, da diese durchaus das Potenzial hat, beim Spieler auch ein Gefühl von Leichtigkeit, wie hier in Form eines Fluges, hervorzurufen.
Auf Tuchfühlung in einer anschaulichen Welt
Kein Teil dieser Ausstellung, aber dennoch ein sehr schönes Beispiel, wenn es darum geht, das Gefühl der Leichtigkeit bei einem Flug durch die Lüfte zu erfahren, ist das Adventure AER: Memories of Old. In diesem Spiel begeben wir uns auf eine Entdeckungsreise in einer Open World. Das Spiel gibt einen Weg mittels Story vor, dennoch ist das Erkunden in der offenen Welt von gleicher Priorität. Unmittelbar verbunden damit ist auch die spielerische Besonderheit des Spiels. Es fügt die Eigenschaften eines Adventures und eines Walking-Simulators zusammen und verleiht letzterem obendrein noch ein entscheidendes Upgrade. Denn statt beispielsweise eine Wanderung, beispielsweise durch eine besinnliche Landschaft zu erleben, gleitet der Spieler als Vogel durch die Lüfte, um von Insel zu Insel zu gelangen. Dies kombiniert mit der Open World stellt dem Spieler frei, ob dieser geradlinig der story line folgt, oder lieber eine der vielen kleinen Inseln abseits des Weges besucht. Diese enthalten zum Teil kleine Tempel oder Ruinen, welche die Handlung um weitere Details ergänzen, oder auch possierliche Tierchen, die unser Handeln aufmerksam beobachten. Während wir uns mit den einen anfreunden können und diese uns mit hohen Tönen freudig entgegen fiepen, lassen die anderen lieber Vorsicht walten und bleiben stets auf Abstand.
Der Wiederaufbau beginnt
Das Spiel setzt sich aus drei größeren Missionen zusammen. Wir starten unsere Reise in einem Dorf, als Teil der letzten menschenähnlichen Bewohner einer sonst dem zivilisierten Leben fernen Welt. Der Große Zerfall hat das Leben in dieser Welt nahezu ausgelöscht, die Städte der Ahnen liegen in Trümmern. Das Spielziel ist es, das Gleichgewicht wiederherzustellen und somit den Frieden und die Harmonie zurück in die Welt zu bringen.
Um das Spielziel zu erreichen, müssen wir drei große Aufgaben lösen. Jede dieser Aufgaben führt uns in eine Höhle, in welcher der Spieler einige Rätsel lösen muss. Das Lösen der Rätsel erlaubt es, dass wir uns in jeder Höhle ein Drittel eines alten Artefaktes aneignen können, welches wir benötigen, um das Leben und die Harmonie in der Welt wiederherzustellen. Nebenbei können wir, mittels eines Reliktes, welches uns am Anfang unserer Reise überreicht wurde – eine antike Laterne – die letzten Handlungen der zuvor dort anwesenden Bürger rekonstruieren. Bewegen wir uns mit diesem Gegenstand auf die schimmernden Umrisse einer menschlichen Gestalt zu, öffnet sich ein (Text-)Fenster in die Vergangenheit.
Um von Insel zu Insel zu gelangen, gibt es die bereits benannte Möglichkeit, als Vogel durch die Lüfte zu flattern. Dies stellt eines der schönsten Features des Spiels dar. Die simple Mechanik ist derart gut umgesetzt, dass ich mich dabei ertappte, alleine mit dem Herumfliegen, dem Begutachten und Erkunden der wunderschönen low-poly-Welt meine erste Spielstunde verbracht zu haben. Wie paralysiert vom durch die simple, aber dennoch leicht fordernde Mechanik ausgelösten flow, erkundete ich bereits noch vor Anbrechen der ersten Mission die Welt und genoss dabei die wunderschön illustrierte Landschaft und vor allem das Fliegen.
Eine Hommage an die Menschheit
Während man so durch die Welt fliegt, der Handlung folgt und nebenbei noch der ein oder anderen neu entdeckten Insel einen Besuch abstattet, fallen einem immer wieder kleine Details ins Auge, die dem Spiel zusätzlich einen gewissen positiven Charme verleihen. Es handelt sich um eher subtil platzierte Fragmente, die eine Parallele zu einem bestimmten Zeitabschnitt der Menschheitsgeschichte darstellen. Beispielsweise wäre da die von den Vorfahren der Inselwelt verwendete Schrift. Diese Schriftart weist eine gewisse Ähnlichkeit zu jenen aus dem antiken Ägypten auf. Genauer gesagt stellt sie eine Mischung aus der demotischen sowie der koptischen Schrift dar, nur etwas umstrukturiert und vor allem nicht mit dem handgeschriebenen Schwung, sondern eckig und kantig, wie präzise in Stein gemeißelt.
Eine weitere Hommage an unsere ägyptischen Vorfahren stellt die Bestattung der Ahnen innerhalb der Spielwelt dar. Eines der Gräber, auf das man im Spiel stößt, deutet beispielsweise darauf hin, dass hier eine Person höheren gesellschaftlichen Standes begraben wurde. Da diese Grabstätte in einer der Höhlen zu finden ist und im Verlauf des Spiels sich solche nur innerhalb von Höhlen finden lassen, lässt sich schlussfolgern, dass das Volk ihrer höhergestellten Bewohner in Höhlen die letzte Ehre erwies. Somit scheint es, als hätten die Höhlen unter anderem eine ähnliche Funktion wie die Pyramiden im alten Ägypten. Auch die Art und Weise wie das steinerne Ebenbild des Toten auf dem Grab liegt, weist Parallelen und Anspielungen auf. Den Kopf des Monumentes ziert ein Kopfschmuck, ähnelnd einer Art Krone. Zudem ist das Monument ordentlich gekleidet, trägt einen Umhang, welcher ebenfalls ein Indiz sein könnte, das auf die Wichtigkeit der begrabenen Personen hindeutet. Außerdem könnte man annehmen, dass auch in der Welt von AER die Toten gemäß ihres gesellschaftlichen Standes für die Beerdigung hergerichtet wurden.
Aus Alt mach Neu
Hinweis: Dieser Abschnitt enthält deutliche Spoiler über den Schluss des Spiels.
Das Spiel bietet diverse Kleinigkeiten dieser Art, die das Spielerlebnis aufwerten und dem Spiel einen eigenen Charakter verleihen, während wir parallel zur Handlung des Spiels auch etwas Historie erleben. Die meisten Momente leben vom eigenen Erkunden und Entdecken. Allerdings gibt es noch eine Besonderheit, die ich an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen möchte: Das Ende des Spiels.
Nachdem wir alle drei Teile des Artefaktes gesammelt haben und diese zusammenfügen konnten, erreichen wir im finalen Spielabschnitt das letzte Areal. Hier werden wir eins mit unserer Patronin, der Göttin Kahra, welche zugleich die ganze Reise hinweg das Licht in unserer Laterne dargestellt hat. Wir treffen schließlich auf ein Wesen, das symbolisch für den Verfall des Landes steht – die Personifikation der Leere. Die Leere holt zum entscheidenden Schlag aus, um uns zu vernichten, damit sie das Land nicht verlassen muss. Doch als die Hand des riesigen, steinernen Geschöpfes auf uns trifft, kommt es nicht nur in Berührung mit uns, sondern auch mit Kahra, dem Licht. Durch die schützende Kraft Kahras, verpufft die Kraft des Schlages. Außerdem hat diese Berührung auch einen positiven Einfluss auf die Leere und führt bei ihr einen Sinneswandel herbei. Sie holt wieder aus, doch diesmal streckt sie uns wohlgesinnt ihre Hand entgegen. Wir tun das Gleiche, strecken unseren Arm ebenfalls aus, und die Lücke zwischen Licht und Leere wird immer kleiner, bis sie schließlich vollends verschwindet.
Die größte Besonderheit dieses Schlussteils liegt in den letzten Sekunden. Diese beinhalten nämlich mehr, als das einfache Begraben einer Diskrepanz. Es ist eine Hommage an einen der bedeutendsten Künstler der Hochrenaissance. Diese Szene erinnert stark an das berühmte Fresko von Michelangelo – Die Erschaffung Adams. Allerdings gibt es hier einen kleinen aber feinen Unterschied: Die beiden Beteiligten in AER berühren einander, während in Michelangelos Gemälde zwischen Adam und Gott eine Lücke steht. Dies verleiht der Situation ihren eigenen Kontext, welcher sich aber nur durch die Kenntnis der Interpretation des Gemäldes erschließt.
Das Gemälde Michelangelos zeigt, wie Gott dem irdischen Adam das Leben einhaucht, während die Erde noch wüst und leer ist. Die zwei Finger kurz vor Berührung stehen als Symbol für das Leben. Diese Bedeutung wird in AER genauso aufgegriffen, die Berührung der beiden soll auch symbolisch für das von nun an wieder aufblühende Leben stehen. Dennoch wurde der Spalt zwischen den Fingern aus einem essentiellen Grund weggelassen und durch eine deutliche Berührung ausgetauscht. Dies hat den Grund, dass man eine weitere Interpretation des Gemäldes, die erst durch die Lücke zwischen den Fingern entstanden ist – nämlich das Gemälde als Metapher für das menschliche Gehirn – sich nicht zu Nutze machen wollte, da das Gemälde nämlich schon eine weitere, für dieses Szenario viel passendere Sache, erreicht hatte – die Reproduktion und die Veränderung von Bedeutung bei wohlbemerkt gleichbleibender Quintessenz. So wurde die Symbolik des Gemäldes über die Jahre immer wieder reproduziert, vor allem in der Filmindustrie. Der 1982 erschienene Film „E.T. – Der Außerirdische“ etwa hat die Geste aus dem Gemälde aufgegriffen und für seine Zwecke leicht abgeändert: Hier findet eine deutliche Berührung zweier Finger statt – als Zeichen der Freundschaft. Und genau diese Interpretation lässt sich auch auf die Schlussszene von AER übertragen. Das Licht und die Leere werden eins miteinander, wodurch das Leben wieder aufblühen kann. Somit bedient sich das Spiel verschiedener Urtexte – Original und Abwandlung – und fügt sie zu einem zusammen, damit die Wirkung beider sich vereint und der so erschaffene Frieden sowie die Einigkeit von Licht und Leere in einer Symbolik gleichzeitig dargestellt werden und funktionieren können.
Fazit
So wie bei Flower das Fliegen durch eine Graslandschaft das flow-Gefühl des Spielers aktivieren soll, so verfällt man beim Spielen von AER: Memories of Old in einen ähnlichen Zustand. Das Gefühl des flows, welches nur entstehen kann, wenn der Spieler sich beim Spielen weder über- noch unterfordert fühlt, wird vor allem im Fliegen durch die Landschaft erweckt: Das Fliegen durch die Welt ist prinzipiell einfach, fordert dennoch etwas Aufmerksamkeit um es zu kontrollieren, und wird selbst nach längerer Zeit nicht monoton. In Kombination mit dem freien Erkunden der Spielwelt und der freien Wahl der Vorgehensweise, verleiht es dem Spieler das Gefühl von Freiheit – Freiheit, selbst entscheiden zu können, worauf man sich in diesem Moment einlassen und worin man sich vertiefen möchte. Sei es der vorgegebenen rote Storyfaden oder doch das Reisen durch eine verlassene, aber dennoch idyllische Welt.
Und wenn man der Storyline folgt, so erlebt man gleich noch ein wenig Kulturgeschichte obendrein. Die Geschichte des Dorfes weist einige Parallelen zu der Geschichte der Menschheit auf und könnte somit nicht nur eine einfache Inspiration oder eine Huldigung sein, sondern auch als Mahnmal interpretiert werden. Ein Zeichen, wohin Krieg und Habgier führen können, und das es nicht immer einen Auserwählten geben wird, welcher der Menschheit wieder Leben einhauchen kann. Und mit dieser Interpretation würde das Spiel perfekt den Nerv der Zeit treffen, denn derzeit braut sich Ähnliches zusammen, wie einst vor dem Großen Zerfall, der das Dorf in AER beinahe komplett ausgelöscht hat.
AER: Memories of Old gelingt so einiges und es ist meiner Meinung nach ein nahezu perfektes Abenteuerspiel. Nicht, weil ich wie ein Spieletester das Spiel mit Punkten für die einzelnen Elemente bewerte und somit zu dem Schluss komme, dass es gut ist. Sondern, weil ich selbst einige Erlebnisse in diesem Spiel hatte, die ich in dieser kompakten Art und Weise noch nicht erlebt hatte. Zudem ist das Spiel eine wirklich erfrischende Abwechslung und mit den Eigenschaften und der Kombination genreübergreifender Spielelemente ein sehr seltener Bestandteil auf dem heutigen Spielemarkt. Das Spiel verbindet Elemente des flow-Erlebens mit Storytelling und beinhaltet obendrein noch die ein oder andere historische Hommage. Sicher sind Wahrnehmungen dieser Art zu einem Teil rein subjektives Empfinden. Doch die Grundvoraussetzungen sind faktisch vorhanden und ich bin mir sicher, dass jeder, der eine gewisse Affinität für gute Adventures hat und sich nebenbei auch ein wenig für Geschichte interessiert, mit diesem Spiel eine sehr gute Erfahrung machen wird.
AER: Memories of Old
Forgotten Key / Daedalic 2017
PlayStation 4, Xbox One, Windows PC und Mac
Gastautor Marc Wahlen ist 19 Jahre jung und wohnt dort, wo Deutschland, die Niederlande und Belgien aufeinandertreffen. Während er sich im Alltag mit Ökonomie beschäftigt, sucht er seinen Ausgleich in kreativen Aktivitäten wie dem Schreiben und auf seinen Reisen durch die Welten verschiedener Adventures und Horrorspiele. Die zu analysieren macht ihm manchmal beinahe mehr Spaß als das Spielen selbst, allerdings war Marc auch einige Zeit im eSports-Bereich aktiv – in Team Fortress 2 und Quake Champions – und wenn die Zeit es hergibt, möchte er dort auch wieder einsteigen.
Homepages der genannten Spiele:
Können sie bitte ein aer 2 erschaffen den der erste Teil hatte kein richtiges Ende. 🙏
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