Viele Videospiele vermeiden es, den Spieler aus seiner sicheren Zone zu drängen und mit ethischen Fragestellungen zu konfrontieren. The Red Strings Club tut dies nicht: Dieses Spiel zielt regelrecht darauf ab, mich ins Grübeln zu bringen.


Wichtiger Hinweis: In diesem Text geht es unter anderem auch um Suizid und Depression.

Meiner Meinung nach sind die Stärken des Science-Fiction-Genres nicht unbedingt riesige Mechas oder Weltraumschlachten, sondern die Momente, in denen in  gewisser Hinsicht philosophische Fragen im Kontext einer Zukunftsvision aufgeworfen werden. Gerade deswegen mag ich Filme wie Ghost in the Shell oder Blade Runner so gerne: Sie nutzen ihr Zukunftsszenario sowie ihre Geschichten, um dem Zuschauer Fragen nach der Menschlichkeit entgegenzubringen. Bei Videospielen wirkt das auf mich durch den höheren Grad der Immersion und dem aktiven Teilhaben am Geschehen noch wesentlich intensiver: So steuere ich etwa in Soma die zentrale Figur, die ihren eigenen Ursprung sowie die menschliche Wahrnehmung in Frage stellt, selbst, und erlebe Kernthemen des Spiels sozusagen am eigenen Leib.

Genau dieses Aufwerfen von Fragen stellt, wenn auch wesentlich offensichtlicher und direkter, „The Red Strings Club“ sehr gut dar. Das Cyberpunk-Adventure von Deconstructeam, welches Anfang des Jahres erschien, handelt von der namensgebenden Oldschool-Bar in einer Stadt der Zukunft. Als Spieler kontrolliere ich abwechselnd den Barkeeper Donovan, dessen Freund, den Freelance Hacker Brandeis, sowie den Roboter Akara-184, der eines Tages in den Club gestolpert kommt. Sie alle versuchen so viel wie möglich über das herauszufinden, was die fiktive Firma „Supercontinent Ltd.“ entwickelt: Ein Implantat für Menschen, das stark negative Gefühlslagen, wie beispielsweise Depressionen oder Hass, nicht zulässt – genannt: Social Psyche Welfare (SPW).  So unterschiedlich die Charaktere sind, so abwechslungsreich gestaltet sich tatsächlich auch das Gameplay von The Red Strings Club: Mit Akara darf ich zu Beginn Gelee Implantate herstellen, welche die sozialen Probleme von Menschen lösen sollen. Als Brandeis darf ich gegen Ende des Spiels eine Firma infiltrieren und auf eine Schnitzeljagd nach einem Passwort gehen.

Genauer eingehen möchte ich nun aber auf das Segment von The Red Strings Club, in dem ich den Barkeeper Donovan übernehmen darf. Nach und nach betreten durstige Gäste das Lokal. Im Gespräch mit ihnen, versuche ich akribisch an Informationen für den Hauptstrang der Geschichte heranzukommen, lerne aber natürlich auch die unterschiedlichen Figuren, manche davon echte Freunde von Donovan, kennen. Durch das Mixen von Cocktails ist es sogar möglich, bestimmte Emotionen in den Personen zu wecken, um ihre inneren Gefühle nach außen zu kehren. Gleichzeitig dienen diese Begegnungen aber auch dem World-Building des Spiels: So sind die Charaktere immer Produkte der Welt, in der sie leben, und berichten von der Stadt, die ich in ihrer Gänze im Spiel eigentlich nie zu Gesicht bekomme. Außerdem erzählen sie nach anfänglichem Small Talk oft von ihrem Leben, teilen ihre persönliche Einschätzung der Ereignisse um sie herum, oder geben Einblick in ihre Gefühle. Wie ein echtes Gespräch eben.

Der Knackpunkt dieses Segments ist allerdings die anschließende Interaktion mit Robotergehilfin Akara: Nachdem die Besucher die Bar verlassen haben, fragt diese nämlich Donovan – und damit den Spieler – in einem kleinen Quiz über das aus, was man glaubt über die Charaktere zu wissen. Durch dieses Quiz testet sie nicht nur die Aufmerksamkeit sondern auch die Menschenkenntnis des Spielers. Ich selber muss hier Rede und Antwort stehen und verraten, ob ich denke, dass die eigentlich fröhlich wirkende Larissa von tiefster Einsamkeit verfolgt wird. Mittels dieser Dualität des Segments, die zunächst scheinbar tiefsinnige Gespräche anschließend infrage stellt, wird mir als Spieler unterschwellig vermittelt, wie komplex doch die menschliche Psyche ist, die wir meistens doch noch unterschätzen, und wie wir bloß von außen betrachtet – egal wie gut ausgeprägt unsere Menschenkenntnisse sind – niemals eine andere Person vollkommen verstehen können.


The Red Strings Club führt diese Gespräche gegen Ende des Bar-Segments zusammen und fordert von mir als Spieler eine Art Konklusion: Die eigentliche Geschichte handelt, wie oben bereits erwähnt, von einem massenpsychologischen Instrument, um schlechte, negative Gefühle zu nullieren. Akara, die konform des Cyberpunk-Settings mehr darüber erfahren möchte, was es bedeutet ein Mensch zu sein und eigene Moralvorstellungen zu haben, stellt nun hypothetische Fragen, für die sie davon ausgeht, Donovan – also der Spieler – habe die Kontrolle über die Regulationen von Social Psyche Welfare. Eine der Handlungen, die das Programm regulieren soll, ist beispielsweise in folgender Frage verpackt: Sollen Menschen mit SPW Suizid begehen können? Bei solchen Fragen musste ich – und so wird es wohl vielen ergehen – immer erst einmal stocken. Man starrt zehn Minuten lang auf den Bildschirm, während einem tausend Gedankengänge und Abwägungen durch den Kopf schießen. Suizid ist nie eine Option, denke ich sofort. Doch kann man das im Bezug auf wirklich alle Menschen verallgemeinern?

All die Fragen, die das Cyberpunk-Adventure mir entgegen wirft, waren definitiv nicht leicht zu beantworten und auf einige gibt es womöglich gar keine richtige Antwort. Es sind allesamt extrem unangenehme Fragen, über die man normalerweise eher ungern nachdenkt oder spricht. The Red Strings Club verbalisiert diese Themen aber und bettet sie perfekt als Abschluss dieses Segments in den Handlungsverlauf ein. Hiermit stellt das Spiel auch eine Parallele zum realen Handeln auf. Aus unseren vorangegangenen Gesprächen mit unterschiedlichen Figuren, die alle mit ihren eigenen Problemen kämpften, versuchen wir als Spieler eine Art Lösung für alle abzuleiten; etwas, das mit unserem Gewissen vereinbar ist. Im echten Leben ist es doch nicht viel anders: Aus den Erfahrungen und Eindrücken, die wir sammeln, ziehen wir Rückschlüsse, um uns eine eigene, unterbewusst philosophische Ethik zu konstruieren, nach der wir innerhalb unserer Welt handeln und argumentieren. Der Spieler wird durch die direkte Anrede und die eigene, forcierte Auswahl seiner Antwort selbst mit der Thematik konfrontiert und hinterfragt eventuell seine eigenen Moralvorstellungen: Würdest du Menschen „erlauben“ depressiv zu sein? Ja, denn es ist ein Teil des menschlichen Daseins? Nein, denn ohne eine solche psychische Erkrankung geht es der gesamten Menschheit besser? Oder sollen Menschen bloß für ein paar Wochen depressiv sein können?

The Red Strings Club schafft mit all dem genau das, was ich eingangs an Cyberpunk sowie Science-Fiction Filmen so wertschätzte und geht dabei, durch die narrative Verknüpfung von Interaktionsmöglichkeiten, über die Darstellungsweisen eines Films hinaus. Ich werde mehr und mehr in die Thematik hineingezogen, während mich The Red Strings Club langsam aber sicher zu ethischem Handeln erzieht. [ao]