Ein Gastbeitrag von Johannes Alvarez Lopez
im Rahmen des Gastautoren-Specials GASTSPIELER II.

Vom 1. Juli 2015 bis zum 31. Januar 2016 fand im Frankfurter Filmmuseum eine Ausstellung statt, die sich einem herausstechenden Aspekt der modernen Videospielkultur widmete. Unter dem Banner: „Film und Games. Ein Wechselspiel“ wurden die wechselseitigen thematischen und ästhetischen Einflüsse der beiden Medienformen aufgezeigt, sowie deren Gemeinsamkeiten und Unterschiede unter die Lupe genommen.

Dass Spiele sich schon seit einer Weile offenbar in den Gedanken verliebt haben, gerade im Medium Film einen Bruder im Geiste gefunden zu haben, scheint bei genauerer Betrachtung kein Wunder zu sein. So eint die beiden Medien beispielsweise der immer weiter voranschreitende technische Fortschritt was ihre Produktionsmittel angeht, sowie ein offenbar wachsendes Verlangen nach hyperrealistischen Darstellungen. Da liegt es nahe, dass nicht nur in Bezug auf äußerliche Erscheinungen, sondern auch in Puncto Erzählformen immer wieder enorme Annäherungen (oder vielleicht sogar Anbiederungen?) an das große, vermeintlich coolere Geschwisterteil vonstattengingen.

Filmisch inszenierte Zwischensequenzen sind für viele Entwickler heutzutage eines der beliebtesten Mittel, um den SpielerInnen die eigenen, epischen Erzählungen nahezubringen. Eine Regieführung in Spielen ähnlich der im Bereich Film scheint daher auf den ersten Blick mindestens möglich, wenn nicht sogar ausschlaggebend, verfolgt man das Ziel eine Spielgeschichte mit Nachklang zu erzählen. Aber ist das wirklich der Fall? Können Aspekte der Filmregie und -narration überhaupt auf Spiele transferiert werden? Und falls ja: In welcher Form können Spiele diese Mechanismen übernehmen und dabei gleichzeitig eine eigene narrative Identität entwickeln?


The appeal of games lies in their promise of agency, in the promise of an openness that is dependent on the player and her choices. All games are therefore necessarily non-unilinear, since true agency implies choice, and choice implies different outcomes.

(Domsch, 3)

Die im Zitat erwähnte “agency”, also der Grad des interaktiven Einflusses, den der Spieler innerhalb der Spielwelt ausüben kann, ist wohl das eklatanteste differenzierende Merkmal zwischen Film und Videospiel. Hierbei stellt sich eine möglicherweise zentrale Frage bezüglich Narration in Spielen: Wie sollte die Ratio zwischen passivem und aktivem Geschichtenerleben gestaltet sein? Gibt es hier eine Balance, eine goldene Mitte, die dem Medium mehr oder weniger gerecht wird?

Denn Interaktivität ist schön und gut, jedoch schaffen es die wenigsten Spiele mit narrativem Fokus, gänzlich ohne eine Regiearbeit auszukommen, die uns aus der Sprache des Films bekannt ist – siehe Cutscenes. Als veranschaulichendes Beispiel dafür lässt sich der Begriff „Chronotopos“ heranziehen, der durch den russischen Literaturwissenschaftler Michail Bachtin geprägt wurde. Gemeint ist damit eine Art Raumzeit, welche die Orte der Handlung in Verhältnis zum Zeitverlauf der Geschichte setzt. Wie Kerstin Stutterheim in ihrem Handbuch angewandter Dramaturgie beschreibt, eignet sich der Fachausdruck ideal, um Unterschiede und vielleicht auch die Schwierigkeiten des Mediums Spiel in Bezug auf diesen Aspekt zum Ausdruck zu bringen. Stellen wir uns zum Beispiel eine Autofahrt vor, durch die unser Protagonist oder unsere Protagonistin innerhalb des Plots eine größere Distanz überbrücken möchte.

In einem Film würde uns diese Szene wahrscheinlich als Montage präsentiert werden, in der Auszüge der Reise durch allerlei Schnitte zeitlich stark verkürzt dargestellt werden könnten. Eine Reise, die innerhalb der Zeitlogik der Geschichte mehrere Stunden dauert, ließe sich so in einigen Sekunden darstellen. Stellen wir uns diese Szene allerdings als eine vollständig interaktive vor, so erzeugt die Reise durch die agency des Spielers, dessen inhärenten Entdeckungstrieb (welcher abhängig von den Möglichkeiten der agency die Reise und damit die Streckenwahl in unvorhersehbarer Weise beeinflussen könnte), sowie der erzwungene Verzicht auf Montagen, einen komplett anderen Eindruck, als bei der Szenenvariante im Film. Auch hier ist Zeitverkürzung theoretisch möglich, jedoch muss sie in diesem Fall meist weitaus subtiler und geringfügiger zum Einsatz kommen als im Medium Film, in welchem sich ein simpler Schnitt zwischen zwei zeitlich und/oder räumlich versetzten Szenen in unseren Köpfen als logisch nachzuvollziehender Sinnzusammenhang etabliert hat.

Der gestaltete Raum ist von hoher Bedeutung für das Kontinuum. Das stellt eine der ästhetischen Besonderheiten im Spiel dar, die weit über die der Mise-en-Scène im Film hinausgehen. Die Spieler_in möchte die künstlichen Räume der Welt, in die sie das Spiel führt, erkunden. Sie begibt sich in einen Chronotopos, den sie sowohl ihrem eigenen Rhythmus anpassen möchte und gleichermaßen die Welt erfahren [möchte], in der sie sich bewegt, in der das Geschehen sich ereignet.

(Stutterheim, 88)

Ein Rhythmus, der also zum einen nicht zulässt, dass die SpielerInnen sich durch schlechte oder fehlgeleitete Führung in der eigentlich angestrebten Narration verlieren und der zum anderen den Drang des interaktiven Miteinbringens in einer zufriedenstellenden und dem jeweiligen Spiel angepassten Form befriedigt, scheint also schon einmal essentiell zu sein.

As conveyors of narrative, video games constantly negotiate between the openness necessary for agency, and narrative demands for some form of closure.

(Domsch, 5)

Ein Beispiel für einen Titel, dessen Regie mich in Anlehnung daran kürzlich fasziniert hat, ist Persona 5. Als Neueinsteiger in die Reihe war ich fasziniert von der erzählerischen Abwechslung und davon, wie gekonnt durch eine geschickte Nutzung des Spielrhythmus die SpielerInnen in die Welt gesogen werden. Gerade in den ersten Spielstunden reichen sich In-game-Sequenzen zwischen Lebenssimulation und Parallelwelt-Erkundung, Cutscenes und Anime-Ausschnitte gekonnt die Hand und erzeugen durch ihre geschickt ineinandergreifende intermediale Mischung ein gelungenes Gefühl der Immersion, bei welchem die Geschichte klar im Vordergrund steht, sich die SpielerInnen aber gleichzeitig nicht unterfordert fühlen.

Im Gegensatz dazu ein Beispiel, welches zumindest in einem Punkt seine Regie so sehr hat missen lassen, dass auf Messageboards wie Reddit unzählige Threads zur betreffenden Thematik eröffnet wurden: In Dragon Age: Inquisition verschlägt es die SpielerInnen nach nicht allzu langer Spielzeit in ein Gebiet namens „Hinterlands“, welches nicht gerade klein ist und einige der für Inquisition so typischen, eher simplen und stark eintönigen Nebenaufgaben bereithält. Durch die fehlende Regie, welche die SpielerInnen an dieser Stelle nicht genügend zum Verfolgen der weitaus weniger faden Mainstory antrieb, gab es zahlreiche SpielerInnen, die Stunde um Stunde für die öde Tristesse der Hinterlands opferten, sich allmählich die Frage stellten, was sie da eigentlich taten und als Ergebnis schon zu einem so frühen Zeitpunkt Ermüdungserscheinungen spürten.


Anders als bei den eben genannten Spielen, bei denen sich die Regie eher als gesamtdramaturgisches Erscheinungsbild offenbart, gibt es noch einige weitere interessante Möglichkeiten eines Regieeingriffes seitens der Entwickler. So offensichtlich, dass man es beinahe übersehen könnte, ist dabei natürlich die Kameraperspektive. Passend dazu hat Insert Moin-Mitglied Michael Cherdchupan ein aufschlussreiches Videoessay mit dem Titel „Halbfeste Kamera in Survival Horror“ zusammengestellt, das vor Augen führt, wie mit klug gewählten Kameraperspektiven, die uns aus der Sprache des Films bekannt sind, Spannung erzeugt und intensiviert werden kann.

Kreative Spielereien mit Kameraperspektiven sind heutzutage durch die Etablierung der frei justierbaren Kamera eher zu einer Seltenheit geworden. Das 2017 erschienene NieR: Automata beispielsweise nutzt variable Kameraperspektiven, um spontane Genrewechsel zu visualisieren. Weicht die 3rd-Person-Ansicht plötzlich einer Topdown-Perspektive und werden wir dabei gleichzeitig von Dutzenden Projektilen beschossen, wird klar, dass hierdurch die Anlehnung an das Danmaku-Genre (bullet hell) betont werden soll.

Im 2016 erschienenen First-Person-Walkingsimulator Virginia wird die mit Spielen eigentlich unvereinbare Methodik des plötzlichen Szenenwechsels, des filmischen Schnitts wenn man es so will, zum zentralen Element gemacht. Die spielerisch simplen Passagen werden im knapp zweistündigen Abenteuer am laufenden Band durch unerwartete Änderungen der Szenerie unterbrochen, oftmals ohne Vorwarnung oder Rücksicht auf den Erkundungsdrang des Spielers. Dabei entsteht ein sicherlich gewünschter Eindruck von Orientierungslosigkeit, während gleichzeitig eine schwer zugängliche Geschichte erzählt wird, die ansatzweise an Werke von David Lynch erinnert und welche es den SpielerInnen nicht unbedingt einfach macht. Ob dieses Konzept wirklich in einem erfolgreichen Walking-Simulator gemündet ist oder das Ganze nicht mehr als ein interessantes Experiment war, muss jedoch jeder selbst für sich entscheiden.

Geht es um neue Formen des Geschichtenerzählens in Spielen, sind Walking-Simulatoren momentan allerdings in aller Munde. Titel wie What Remains of Edith Finch beweisen uns nun, wie auch bei augenscheinlich minimalem Gameplayeinfluss mit sinnreichen und an die jeweiligen Szenen gebundenen Interaktionen ein Flow entstehen kann, der passives und aktives Geschichtenerleben in einer angenehmen und modernen Weise miteinander verbindet.

Besonders im Fall Edith Finch seien an dieser Stelle noch einmal die Möglichkeiten des Environmental Storytelling erwähnt. Der Pfad, den die SpielerInnen im Idealfall durchlaufen sollen, dient mit seiner Mise-en-Game, seinem spielerischen Pendant zum filmischen Szenenbild, als bunter Spielplatz für die Regiebedürfnisse von Game Designern. So fungieren bei Edith Finch die durchstöberbaren Ecken des Hauses nicht nur als zusätzliche Schmankerl, welche die Entdeckungslust für zwischendurch befriedigen sollen, sondern als einer der wichtigsten Baupfeiler der Geschichte. Bücherregale, Schreibtische und sonstige Objekte von narrativem Interesse wirken nicht beliebig und ohne Hintergedanken platziert, sondern im Gegenteil mit Bedacht aneinandergereiht, bis dabei am Ende der Museumsgang, die Erlebnisausstellung What Remains of Edith Finch entstand.


On the other hand, digital games that want to tell specific stories must develop storytelling mechanics that make narratives possible. This interdependent relationship constitutes the special role played by the narration in digital games.

(Freyermuth, 168)

Gibt es eine Blaupause für gutes Erzählen, für gute Regieführung in Spielen? Das angeführte Zitat mag vielleicht auf den ersten Blick etwas plump wirken, aber in seiner Aussage liegt die Essenz und vielleicht auch gerade die große Problematik, wieso sich auch heute noch oftmals Spiele beim Storytelling schwertun.

Ein Spiel wie Papers, Please beispielsweise erzählt eine Geschichte, die gekoppelt an spielerische Elemente ist, die autark von der Erzählung nicht funktionieren würden. Erst im Verbund von beidem entsteht das, was wir heute als einen der gelungensten Indie-Titel der letzten Jahre bezeichnen. What Remains of Edith Finch nutzt träumerische und trance-mäßige Elemente, die gerade durch ihre Simulationen der jeweiligen sehr spezifischen Handlungen einzigartig und nicht austauschbar wirken und in die restliche Erzählung des Hauses eingebunden sind. Diese starken inhaltlichen Bezüge zwischen Spiel und Erzählung, durch welche auch der Versuch unternommen wird, die oft kritisierte ludonarrative Dissonanz zu mindern, funktionieren logischerweise auch in umgekehrter Richtung. So kann eine Narrativierung von Spielregeln, zum Beispiel die Erklärung der Wiederbelebung nach dem eigenen Pixeltod in Bioshock durch die im Spiel eingebauten Vita-Kammern, in ein (wenn vielleicht auch unbewusst) stärkeres Eintauchen in die Spielwelt münden (Domsch, 23).

Schlussendlich bleibt in Bezug auf Regie sowie Narration in Spielen im Allgemeinen zu sagen: Wer mit der Priorität an Spieleentwicklung herangeht, eine Geschichte zu erzählen, die ihm wahrhaftig am Herzen liegt, sollte sich die Frage stellen, welchen Mehrwert kann ich dieser Geschichte durch das Medium Spiel bieten? Gerade in Bezug auf diese Frage scheint es ratsam, außerhalb von festgefahrenen Genrekonventionen zu denken und sich nicht einfach ein bereits bestehendes Spielkonzept zu suchen, das spekulativ gesehen am besten mit der eigenen Idee vereinbar sein könnte. Jede gute Idee für eine Spielgeschichte muss ihren ganz eigenen mechanischen Ansatz finden. Dabei spielt die Regie eine tragende Rolle. Die eigene Geschichte zu erzählen, ohne die vor dem Bildschirm sitzende Person durch zu viel Ablenkung und fehlenden Fokus auf den beabsichtigten Spielverlauf zu verlieren, und ihr dabei gleichzeitig das Gefühl von bedeutsamen Handlungsmöglichkeiten zu geben, ist die eine zentrale Krux, die Storytelling in Spielen zu jenem besonders schwierigem Fall macht.

Ich glaube jedoch fest an eine rosige Zukunft was Geschichtenerzählen in Spielen angeht, und ich bin mir sicher, dass sich die wahren Meilensteine diesbezüglich noch vor uns befinden. Auf der einen Seite haben wir bereits Walking-Simulatoren wie What Remains of Edith Finch oder Gone Home, die uns durch ihre starken literarischen Fähigkeiten verzaubern. Auf der anderen, eher Gameplay-fokussierten Seite haben wir spielsystematische Welten wie die eines Zelda: Breath of the Wild, die in ihrer Komplexität und ihren logisch aufeinander aufbauenden Elementen der Spielwelt neue Maßstäbe für Open-World-Titel setzen und diesen ungeahnte Chancen für die Zukunft geben. Nun heißt es gespannt abzuwarten, was diese beiden Schulen durch eine engere Verzahnung und den Austausch ihrer jeweiligen Erkenntnisse noch erreichen werden.


Der Autor: 

Johannes Alvarez Lopez (@Jominathor)
Schreibt auf crossmediaculture.de.

23-jährig ist Johannes jung genug um Knights of the Old Republic 2: The Sith Lords als schönste Spiele-Kindheitserinnerung mitgenommen zu haben. Tiefergehendes Interesse für Spiele entwickelte der Soziologie- und Anglistikstudent aus Heidelberg allerdings erst mit dem Erscheinen der Xbox 360. Als Filmfan, der privat gern Fiktionales schreibt, interessiert er sich heute sehr für die noch unentdeckten Potenziale des Storytellings in Spielen. In großen Triple-A-Produktionen fehlt es ihm oft an Persönlichkeit, Seele, oder klaren Visionen, trotzdem schafften es einige dieser Produktionen unter seine Lieblinge der letzten Jahre: NieR: Automata, What Remains of Edith Finch, The Beginner’s Guide, Undertale, Bioshock: Infinite, Portal 2. Johannes arbeitete in der Vergangenheit in der Videospiel-PR und heute als HiWi im Bereich E-Learning. [sk]


Quellen und weiterführende Links:

  • Freyermuth, Gundolf S. Games, Game Design, Game Studies: eine Einführung. Bd. [19]. Bielefeld: transcript. 2015
  • Domsch, Sebastian. Storyplaying: Agency and Narrative in Video Games. Bd. 4. Berlin ; Boston: De Gruyter. 2013
  • Stutterheim, Kerstin. Handbuch Angewandter Dramaturgie: vom Geheimnis des filmischen Erzählens; Film, TV und Games. Bd. 4. Frankfurt am Main; Bern; Wien [u.a.]: PL Academic Research. 2015
  • Lenhardt, Eva [Red.] Film und Games: ein Wechselspiel. Deutsches Filmmuseum, Frankfurt am Main, 1. Juli 2015 bis 31. Januar 2016. Berlin: Bertz + Fischer. 2015
  • Rauscher, Andreas. „Mise en Game. Die spielerische Aneignung filmischer Räume“. New Game Plus – Perspektiven der Game Studies. Genres – Künste – Diskurse.  Beil, Benjamin [Hrsg.] Bd. 3. Bielefeld: transcript, 2015
  • Halbfeste Kamera in Survival Horror – Polygon Planet #001. Kollisionsabfrage. https://www.youtube.com/watch?v=X5c_LMG2vo8. 2017

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