Ein Gastbeitrag von Adrian Trachte
im Rahmen des Gastautoren-Specials GASTSPIELER II.

Was haben Los Santos aus Grand Theft Auto V, die sibirische Wildnis in Rise of the Tomb Raider und das viktorianische London von Assassin’s Creed Syndicate gemein? Sie alle versuchen eine möglichst authentisch wirkende und sich lebendig anfühlende Welt darzustellen und orientieren sich dabei an – mehr oder weniger – realen Vorbildern. Kaum eine Rezension oder Kommentar, der die technisch komplexen und visuell oftmals geradezu atemberaubenden Kreationen von Rockstar Games, Crystal Dynamics, Ubisoft und Co. nicht zu schätzen weiß. Obwohl ich mich in den genannten Spielen für etliche Stunden und gerade auch wegen ihrer großartig inszenierten Welten verlieren kann, so kann ich sie in den seltensten Fällen als glaubwürdige Spiegelbilder ihrer realen Vorbilder wahrnehmen. Vielmehr sind sie für mich gamifizierte Kulissen, die sich letztlich dem Faktor „Spielspaß“ unterordnen und ein digitaler Spielplatz sein müssen.

Wenn es um die glaubwürdige Abbildung eines in der Realität existierenden Ortes geht, die in meinen Augen wirklich funktioniert, so sticht für mich Kamurocho hervor. Seit über einer Dekade ist die Spielwelt aus der im Westen leider etwas unnötig brachial betitelten Yakuza Reihe – der subtilere japanische Titel Ryū ga Gotoku bedeutet in etwa so viel wie „Wie ein Drache“ – so etwas wie eine zweite Heimat für mich geworden, in die ich, dank des regen Nachschubs an neuen Serienteilen, beinahe jährlich zurückkehre. In der Diskussion wird die 2005 auf der PlayStation 2 gestartete Reihe immer wieder gar als „Japan-Simulator“ bezeichnet, welchem es eben nicht nur gelingt eine sich authentisch anfühlende Welt zu kreieren, die auf einem realen Vorbild basiert, sondern auch ein Verständnis für die japanische Kultur zu prägen, ohne sich dabei allzu stark verbiegen zu müssen. Da ist einiges dran.


Open-World? Nein, danke.

Laut Masayoshi Kikuchi, der die Reihe neben Toshihiro Nagoshi als Produzent betreut, war es nie das Ziel, eine offene Welt im Stile von Sandbox-Spielen wie Grand Theft Auto zu erschaffen. Stattdessen wolle man das Nachtleben und die Unterwelt von Japan zeigen und innerhalb dieses Settings eine interessante Geschichte erzählen. Abgesehen von zwei, im feudalen Japan angesiedelten Spin-Offs, spielen alle Serienteile in Kamurocho. Dieser fiktive Bezirk basiert auf dem real existierenden Kabukichō, dem Rotlichtviertel Tōkyōs im Herzen von Shinjuku. Ab dem zweiten Serienteil kamen zwar auch immer neue Städte (Ōsaka, Sapporo, Okinawa etc.) hinzu, in denen es die Spieler zeitweise verschlägt, Kamurocho ist aber bis heute die eigentliche Konstante der Reihe.

Wie falsch ein Vergleich zu den gerade aus dem Westen stammenden Open-World Spielen ist, zeigt bereits der Blick auf die Größe der Spielwelt, denn Kamurocho hat nichts mit den ausschweifenden Welten vieler anderer Spiele zu tun. Statt der Maxime „größer = besser“ zu folgen und die Karte mit möglichst vielen Quadratkilometern, Symbolen und Inhalten zu füllen, konzentrieren sich die Entwickler seit jeher auf die möglichst authentische Darstellung eines einzigen Viertels und seiner verschiedenen Seiten. Man kann das Gebiet vermutlich in weniger als 15 Minuten komplett durchqueren und dabei jede Straße, jede Gasse und jede Abzweigung einmal gesehen haben. Wer aber einfach nur mit Scheuklappen die Welt abläuft, der verpasst so einiges, was in ihr geschieht. Wie nah sich die Entwickler bereits am grundlegenden Aufbau von Kabukichō orientieren, verrät ein Blick auf folgende zwei Karten. Links Kabukichō, rechts Kamurocho.

Original und Abbildung teilen sich aber weitaus mehr, als eine fast identisch aufgebaute Karte. Das für das Franchise verantwortliche Studio selbst ist unweit von Kabukichō ansässig, was den Entwicklern erlaubt regelmäßig den Schauplatz ihrer Spiele zu besuchen, Bilder und Videos aufzunehmen und die Eindrücke in die Spiele einzuarbeiten. Das wiederum resultiert in einer stellenweise erstaunlichen 1:1-Adaption, die über die Jahre hinweg immer detailreicher geworden ist.

Im Folgenden möchte ich etwas näher auf einige Wahrzeichen, Geschäfte und Gebäude eingehen und anhand verschiedener Beispiele zeigen, wie vernarrt die Entwickler in Details sind. Und wie all das dazu beiträgt, dass sich ein Rundgang durch Kamurocho so anfühlt, als würde man selbst durch eine japanische Großstadt schlendern.


Ein Rundgang durch Kamurocho

Jeder Serienteil hat seine obligatorische Eröffnungsszene, in welcher Protagonist Kazuma Kiryu am Eingang von Kamurocho unter dem ikonischen, neonbeleuchteten Torbogen steht. Ein solcher steht – in leicht abgewandelter Form – auch in Kabukichō und begrüßt seine Gäste. Diese setzen sich vor allem aus Büroangestellten, die nach der Arbeit in einer der vielen Izakaya genannten Kneipen trinken und ihr Abendessen einnehmen und sich anschließend bei einer Runde Karaoke vom Alltagsstress lösen.

Keine japanische Großstadt ohne Arcade-Läden. Auch wenn die Geschäfte in den vergangenen zehn Jahren stark unter der rückgängigen Geburtenrate gelitten haben und infolgedessen ihr Geschäftsmodell umstrukturieren mussten, so sind sie unter Teenagern nach wie vor ein beliebter Treffpunkt und locken mit einem Überangebot an verschiedensten Automaten. Die oftmals mehrstöckigen Läden bieten für alle Altersklassen und Interessen eine Anlaufstelle, wie beispielsweise den Derby Owners Club, ein Arcade-Automat an welchen man meistens ältere Herren vorfindet. Die digitale Variante des Club Sega in Yakuza ist etwas kleiner als das Vorbild in der Realität, besitzt aber ebenso eine Auswahl an verschiedenen Automaten.

Gotta Catch ‚Em All! Mit den hiesigen, vor allem auf Jahrmärkten verbreiteten Greifautomaten haben die entsprechenden Gegenstücke in Japan wenig gemein. Die hier zu gewinnenden Gegenstände sind meistens von hoher Qualität und teilweise sehr begehrt. Neben Plüschtieren kann man auch PVC-Figuren, Süßigkeiten, sogar kleine Elektronikgeräte, Uhren und vieles anderes absahnen – sofern man genügend Kleingeld, Geduld und ein bisschen Glück hat.

Die Bandbreite an verfügbaren Spielen in Arcades ist enorm. In den verschiedenen Yakuza-Iterationen finden sich vor allem Klassiker aus dem Spielekatalog von Sega. Im Prequel Yakuza 0 etwa freuen sich Retro-Freunde über komplett spielbare Emulationen von Space Harrier und Outrun, in Yakuza 6 (der westliche Release ist im März 2018) kann man sogar eine vollständige Version von Virtua Fighter 5 zocken.

Was bitteschön macht eine an das europäische Mittelalter anmutende Burg inmitten von Tōkyō? Das werden sich sicherlich so einige Spieler bereits gefragt haben, sobald sie das sehr aus der eigentlichen Szenerie hervorstechende Gebäude zum ersten Mal im Spiel sehen. Wer glaubt, hier hätten die Entwickler einfach nur zu viel Fantasie gehabt, der täuscht, denn tatsächlich steht in Kabukichō der Nachbau einer Burg. Während das Gebäude in der Realität als Love Hotel dient, ist es in den meisten Serienteilen von Yakuza nur eine Kulisse.

Ganz anders, als andere Establishments. Wie im realen Vorbild, so findet man auch in Kamurocho diverse Hostess-Clubs und Kyabakura. Letzteres ist ein Kofferwort für kyabarē, dem japanischen Wort für Cabaret, und bezeichnet Clubs, in denen die dort angestellten Frauen die meist männlichen Gäste bewirten. Hostessen werden gerne auch mal als der moderne Gegenentwurf der Geisha verstanden. Berührungen und Prostitution sind in den Clubs tabu, es ist aber ein offenes Geheimnis, dass viele Hostessen sich außerhalb ihres Arbeitsplatzes mit Gästen verabreden und Arrangements treffen. In den Spielen werden die Clubs eher harmlos abgebildet: Mittels verschiedener Multiple-Choice-Antworten plaudert und flirtet man mit den Hostessen und intensiviert die Beziehung mit diesen. Ist die Zuneigung hoch genug, können die Damen auch zu Dates eingeladen werden – und mehr. Was im Hotel geschieht, bleibt aber ein Geheimnis zwischen Protagonist Kiryu Kazuma und seiner Begleitung.

In der Realität gibt es übrigens auch Host-Clubs, in denen Männer arbeiten und der Kundenstamm aus Frauen besteht. Das Prinzip ist hier das gleiche wie bei den Hostess-Clubs. In Yakuza spielen auch männliche Hosts eine Rolle, treten beispielsweise als NPCs und auf diversen Werbeflächen auf. In Clubs mit den fesch frisierten Kerlen plauschen, oder sie gar daten, kann man aber (leider!!!) nicht.

Japaner mögen ungewöhnliche Namen, die gerade in westlichen Ohren und den gegebenen Kontexten etwas seltsam anmuten. Ein Paradebeispiel dafür ist die Kaufhaus-Kette Don Quijote, deren Name sich von der berühmten Romanfigur von Miguel de Cervantes ableitet. Auf den ersten Blick erinnern die Geschäfte an etwas bessere Ramschläden, in denen man wirklich ALLES finden kann. Von Socken und T-Shirts, bis zu sündhaft teuren Designer-Handtaschen, Videospielen, Lebensmitteln, Spirituosen und Sex-Toys gibt es bei Don Quijote nichts, was es nicht gibt. Yakuza-Spieler verbinden Don Quijote nicht zuletzt mit dem eingängigen Jingle, welcher aus dem Geschäft heraus bis auf die Straßen plärrt. Auch in der Realität tönt die eingängige Musik aus den Läden heraus.

Die Konbini genannten Supermärkte gibt es in Japan an jeder Ecke. Wobei, Supermarkt trifft es eigentlich nicht richtig, denn die Auswahl der meist kleinen, rund um die Uhr und an sieben Tagen die Woche geöffneten Läden ist einigermaßen überschaubar. Neben Instant-Nudeln, kalten und warmen Getränken, Bento-Lunchpaketen und Süßkram werden auch kleinere Drogerieartikel und Tabakwaren geführt. In Deutschland wohl kaum vorstellbar: Wer will, kann seine Nebenkosten, Miete und andere Rechnungen direkt am Kassenschalter begleichen und muss nicht extra zur Bank laufen. Da bekommt das Wort „Komfort“ doch gleich eine vollkommen neue Bedeutung.

Die Detailversessenheit der Entwickler zeigt sich in den begehbaren Geschäften in Gänze. Unter anderem kann man am Zeitungsstand real existierende Magazine, wie etwa die Videospielzeitschrift Famitsu, in Augenschein nehmen. Mehr als kompakte Informationen zur jeweiligen Zeitschrift erhält man zwar nicht, aber immerhin. Auch der Aufwand, der bei der Texturierung und Gestaltung anderer Produkte betrieben wurde, ist erstaunlich, gerade wenn man bedenkt, dass man nicht mit den Objekten interagieren kann.

Um seine Energie aufzufrischen, kann sich Kiryu in Kamurocho in einer Vielzahl von Restaurants und Bars niederlassen. Ramen, Burger, Parfaits, Sushi – die Palette der bestellbaren Gerichte ist enorm, der Detailgrad der extra für diesen eigentlich nebensächlichen Part des Spieles gemachten Bilder ebenso. Mit viel Aufwand dargestellte Essen sind übrigens ein Phänomen, welches sich in vielen japanischen Videospielen finden lässt.

Auf die Spitze wird das Ganze in Kneipen getrieben. Hier kann man nicht nur real existierenden Gin, Rum und Wodka die virtuelle Kehle runterspülen, sondern erhält obendrauf auch noch umfassende Informationen zu den einzelnen Alkoholika serviert. Kanpai!


Abschluss

Was sich mit Beispielen und Impressionen in Text- und Bildform sicherlich nicht wiedergeben lässt, ist das ganz spezielle Gefühl, welches man beim Spielen von Yakuza erhält. Obwohl Japan und insbesondere seine Großstädte im Vergleich zu anderen asiatischen Ländern und Metropolen am ehesten „westlich“ erscheinen mögen, so geht von ihnen doch eine ganz eigene Stimmung aus. Jeder, der das Land selbst besucht hat und sich auch einmal außerhalb der Touristenpfade getraut hat, wird vielleicht nachvollziehen können, was ich meine. Abseits der reinen Nachbildungen aus der Realität sind es vor allem die vielen kleinen Details in Kamurocho, die für mich den Zauber der Spiele ausmachen und die Illusion einer „lebendigen“ Stadt bilden. Sei es das „Irasshaimase“, mit denen Gäste und Kunden in Restaurants und Geschäften begrüßt werden, der quirlige Jingle von Don Quijote, der bereits auf der Straße hörbar ist, oder das „Bing“, sobald man ein Konbini betritt.

Yakuza schafft es ziemlich gut, einen Eindruck der japanischen Alltagskultur zu vermitteln. In der Diskussion um das Franchise geht dieser Aspekt oftmals verloren, doch man täte der Reihe eben sehr Unrecht, beschränkte man sie nur auf ihre abgedrehten Momente und ihre Mechaniken. Als Beispiel ließe sich hier etwa die japanische Höflichkeitskultur herausstellen, die vor allem in den Zwischensequenzen und dort auch sehr authentisch dargestellt wird. Leider gehen gewisse Nuancen in den englischen Untertiteln oftmals unter, was aber auch damit zu tun hat, dass sich beispielsweise die in mehreren Stufen unterteilende Höflichkeitssprache mit ihren unzähligen Suffixen für Namen (-san, -sama, -senpai, -kun, -chan etc.) kaum ins Englische oder eine andere westliche Sprache übersetzen lässt.

Wer eine PlayStation 2, 3 oder 4 besitzt und sich nur im entferntesten für digitale Welten bzw. für Japan im Speziellen interessiert, dem sei die Serie ausdrücklichst empfohlen. Spielerisch wie inhaltlich mögen die Titel speziell sein und sicherlich nicht jeden Typen ansprechen, dennoch dürfte schon ein kurzer Trip nach Kamurocho für Interessierte eine spannende Angelegenheit sein. Für die PlayStation 3 ist vor allem Yakuza 5 empfehlenswert, welches mit fünf unterschiedlichen Städten aufwartet und die bisher größte Bandbreite an verschiedenen Ortschaften enthält. Für die PlayStation 4 seien mit Yakuza Kiwami das Remake des Erstlings und Yakuza 0 hervorgehoben. Beide Spiele bilden den idealen Einstieg für Neulinge. In dem Prequel ist man allerdings im Kamurocho der 1980er Jahre unterwegs, was für sich genommen noch einmal ein ganz eigenes Erlebnis darstellt und wunderbar zeigt, wie sehr sich Kamurocho im Laufe der Zeit gewandelt hat und wie bedacht die Entwickler darauf sind, ihre Kreation als lebendige Stadt zu inszenieren.

Für Interessierte gibt es im folgenden noch eine kleine Linksammlung mit Beiträgen rund um die Spiele und ihre Welt:

Update (03.04.2018): Die Fortsetzung des Artikels bei GASTSPIELER III:


Der Autor:

Adrian Trachte (@hype_me_not)
Schreibt auf Gamecontrast.de.

Im zarten Alter von fünf Jahren bekam Adrian einen grauen Klotz in die Hände gedrückt, über dessen Bildschirm andere graue Klötze purzelten – der Beginn einer Spielerkarriere, die abwechslungsreiches Gameplay und außergewöhnliche narrative Erlebnisse ebenso zu schätzen weiß wie Fast Food à la Call of Duty. Die meisten Lieblingsspiele (Yakuza, Danganronpa, Resident Evil, Persona) des Nordhessen kommen allerdings aus Japan – ein Land, dass ihn auch über Videospiele hinaus fasziniert, sei es Geschichte, Essenskultur oder Kino. Adrian ist heute 29, hat Politikwissenschaft und Geschichte studiert und schreibt bereits seit mehreren Jahren für GameContrast.de. [sk]