Heute ist Freitag und – nein, dies ist nicht die neueste Ausgabe von „Lesenswert“. Ganz viel ganz besonders Lesenswertes steht hier aber trotzdem.
Pascal von Indieflock.net hat nämlich auch in diesem Jahr wieder dazu aufgerufen, die besten, interessantesten oder einfach nur liebsten Games-Kritiken des vergangenen Jahres zusammenzutragen. Der Begriff „Kritiken“ war dabei sehr weit gefasst zu verstehen; im Prinzip geht es um jegliche Arten von Beiträgen über Videospiele.
Und weil wir bei SPIELKRITIK die Kritik bereits im Namen tragen (und das Feld der Spielkritik, neben Spielen selbst, von Beginn an ein bewusster Schwerpunkt dieser Seite war) mache ich auch in diesem Jahr gerne wieder mit!
Der Zusage folgte bald die Frage, welche Kritik(en) ich denn nominieren sollte. Und wie ich mich durch alle unsere Leseempfehlungen des letzten Jahres wühlte, da wurde mir bald klar, dass es für mich die Kritik des Jahres im deutschsprachigen Internet einfach nicht gab. Und damit meine ich nicht etwa, dass zu viele Kandidaten in Frage gekommen wären und ich mich für einen einzelnen Artikel nicht hätte entscheiden konnte. Nein, die Kritiken des Jahres gab es noch viel weniger.
Das mag nun etwas harsch klingen, auch vor dem Hintergrund, dass ich allwöchentlich richtig gute (und zu gut 50 Prozent deutschsprachige) Artikel im Rahmen unserer Rubrik „Lesenswert“ verlinke. Mehrere hundert Empfehlungen sind im letzten Jahr auf diese Weise zusammengekommen. Aber den einen Artikel, oder auch nur irgendeinen, dem ich allumfassende Exzellenz bescheinigen könnte, den konnte ich nicht finden.
Sicherlich stelle ich hier hohe Ansprüche. Vielleicht habe ich diesen Artikel auch einfach übersehen. Aber ich weiß zum Beispiel, dass es im englischsprachigen Internet solche Artikel gibt – Beiträge, die es verdient hätten, „Lieblingskritiken“ genannt zu werden (um relativ random einen zu nennen: diesen hier). Im deutschsprachigen Raum war das Problem meistens das, dass die in Frage kommenden Beiträge entweder nicht die nötige sprachliche Exzellenz mitbrachten oder in ihrer Themenwahl nicht besonders genug waren, oder nicht ausreichend relevant, oder zu leichtgewichtig in ihren Argumenten.
So gab es vonseiten professioneller Journalisten mehrere Artikel, die keinen Anlass für Kritik im eigentlichen Sinne boten und die ich wirklich gerne las (und erneut lese). Aber über die Maßen herausragend, alles verändernd, sich mir ins Gedächtnis brennend und meinen Blick auf (ein) Spiel(e) oder auf das Schreiben über Spiele für immer verändernd? Nein, das schaffte in diesem Jahr kein Artikel (der letzte deutschsprachige, dem ich das attestieren würde, wäre dieser hier, den ich zwar erst vor rund einem Jahr las, der aber schon etwas älter ist).
Im Folgenden liste ich daher Beiträge, die dem Ideal einer „Lieblingskritik“ am nächsten kommen. Daneben Beiträge, die vielleicht nicht die Qualität und Reife haben (oder auch nur haben wollen) wie die der professionellen Schreiber, die mich aber durch ihre Argumentation, Originalität oder Akribie beeindruckten und es deshalb verdient haben, hier noch einmal erwähnt zu werden. Möge die zuteilwerdende Aufmerksamkeit (LESEBEFEHL!) ihre AutorInnen in Ihrem Schaffen bestärken und zu noch Größerem anspornen!
Schließlich noch ein paar Disclaimer: Eigene Artikel oder Gastartikel auf SPIELKRITIK.com ließ ich für die folgende Liste generell außen vor. Ebenso blieben Artikel in Printmagazinen draußen, weil ich da auf die Schnelle nicht die Gelegenheit einer Rückschau hatte und generell nur wenig zum Lesen gekommen bin. Ebenso habe ich mir nicht die Mühe gemacht, die Podcasts des Jahr noch einmal Revue passieren zu lassen, weil mir das geschriebene Wort aktuell doch eher am Herzen liegt – mit einer Ausnahme allerdings, die mir tatsächlich in Erinnerung blieb (und das nicht nur, weil ich selbst am Rande beteiligt war) und in ihrer Gesamtheit dem oben genannten Ideal einer Lieblingskritik vielleicht sogar am nächsten kommt.
Darüber hinaus möchte ich die Gelegenheit nutzen und mich bei all denen bedanken, die in ihren Lieblingskritiken-Roundups Beiträge von SPIELKRITIK.com genannt haben oder das noch vorhaben! Es ging mir immer darum, möglichst zeitlose Texte zu veröffentlichen, die über kurzlebige Hypes hinaus einen Wert haben, und es ist schön, zu sehen, dass das an einigen Stellen gelungen ist – herzlichen Dank!
Nun aber viel Freude mit den folgenden Fundstücken!
Warum ich einfach nicht Wehrmacht spielen mag
(eurogamer.de, Markus Grundmann)
Markus Grundmann gelingt es, seine Rezension an Kriterien auszurichten, die in anderen Kritiken allenfalls eine Randnotiz ohne Wertungsrelevanz darstellen würden. Gleichzeitig erfüllt sein Beitrag alle Anforderungen an eine gute Rezension und lässt bei mir nicht nur das Gefühl zurück, bestens informiert zu sein – seine Herangehensweise hat mich überhaupt erst dazu gebracht, mich mit einem Spiel zu beschäftigen, dass mir sonst egaler kaum hätte sein können. Vorbildhaft!
Nebenbei gesagt entdeckte ich 2017 Eurogamer.de als Quell starker Artikel, gerade von Spielerezensionen im engeren Sinne.
Stimmen hören – Hellblade zeigt uns ein anderes Bewusstsein
(videogametourism.at bzw. archaeogames.net, Rainer Sigl)
Hellblade gibt dem Spieler sehr viel – was es relativ leicht macht, viel über dieses Spiel zu sagen. Dass am Ende trotzdem fast nur die Psyche der Protagonistin im Vordergrund steht, ist etwas ernüchternd. Rainer Sigl hingegen gelingt es, die Psyche der Heldin einmal nicht an heutigen Maßstäben zu messen, sondern in den Kontext ihrer Zeit und der sie umgebenden Kultur zu stellen. Auf diese Weise tritt der Blickwinkel der „Erkrankung“ in den Hintergrund und die Frage nach „Bewusstsein“ nach vorn. Das Ergebnis ist ein Artikel, der nicht nur Lust auf Hellblade macht, sondern auch unser heutiges Verständnis von psychischer Erkrankung in geschichtliche Relation setzt. Foucault würde approven.
Emotionen sind wichtiger als Blut
(tagesspiegel.de, Matthias Kreienbrink)
Matthias Kreienbrink fiel 2017 mit einem fast konkurrenzlosen Output auf, mit einer Masse von Artikeln für unterschiedlichste Publikationen. Der Klasse tat das keinen Abbruch und dieser Artikel über Resident Evil 7 und das Horrorgenre ist mir am lebendigsten in Erinnerung geblieben. Das liegt vor allem an der starken Kernthese von der „Verletzbarkeit des Körpers“, die den Kerne des Survival Horrors bilde.
Freunde sind wie…
(indieflock.net, Pascal Wagner)
Freundschaft in Videospielen – falls sie überhaupt einmal eine Darstellung erfährt, dann meist in RPGs und verwandten Genres aus Japan. Ein seltsam selten betrachtetes Thema, dessen Pascal Wagner sich in diesem Artikel annimmt. Dass er dabei nur an der Oberfläche kratzt tut der Kurzweiligkeit des unterhaltsam geschriebenen Artikels keinen Abbruch. Bleibt nur die Frage: Sind Freunde nun wie Küchenmaschinen oder doch eher wie Lootboxen? Ich werde darüber nachdenken, wenn ich endlich einmal Tokyo Mirage Sessions weiterspiele…
Quo vadis, Gamergirl?
(fried-phoenix.de, Gudrun Hoffmann-Schoenborn)
Ein wunderbar unterhaltsamer Rant über Gamerinnen, die sich unter ihren Möglichkeiten verkaufen. Das ist nicht unbedingt schlimm oder falsch aber ganz sicher ziemlich schade – alles weitere verrät der Artikel.
Über das Kunstwerk Spiel, die Beziehung zwischen Spiel und Spieler und wieso ich keine DLC mag
(crossmediaculture.de, Johannes Alvarez Lopez)
Gibt es (noch) das vollständige Spiel? Johannes Alvarez Lopez spricht hier, von eigenen Vorlieben ausgehend, ein grundsätzliches Phänomen an, das im Fahrwasser von Updates, DLC und Online-Gaming bis hin zu Free-to-Play-Microtransactions und Games as a Service mitschwimmt, und dessen Implikationen gerade für die Spielkritik enorm sein sollten, die aber trotzdem seltsam wenig Beachtung finden.
Wie Sounddesign uns zu besseren Spielern macht
(diegamingeule.wordpress.com, Sascha Kretzschmar)
Der Sound eines Spiels ist für die Spielerfahrung kaum weniger wichtig als das grafische Feedback – das dürfte jeder wissen, der ein tief verinnerlichtes Spiel plötzlich einmal ohne Sound weiterspielen muss. Anhand von Playerunknown’s Battlegrounds und Overwatch erklärt Sascha Kretzschmar auf leicht verständliche Weise die Grundlagen modernen Videospiel-Sounddesigns.
Hauptstädte in Civilization VI
(videospielhistoriker.wordpress.com, bdbjorn)
Exemplarisch für eine ganze Reihe von geschichtswissenschaftlich fokussierten Artikeln zu unterschiedlichen Spielen, vor allem aber der Civilization-Reihe, sei dieser Beitrag des „Videospielhistorikers“ erwähnt: Mit leichter Hand und bemerkenswerter Akribie geht der Autor der „Hauptstadtfrage“ von Civilization auf den Grund und kommt zumindest im Falle von Teil VI zu einem eindeutigen Ergebnis.
Themenmonat: Darstellung von körperlicher Behinderung in digitalen Spielen
(pixeldiskurs.de, Tobias Klös & Stefan Simond et al.)
Begleitet von einer Reihe von geschriebenen Beiträgen beschäftigte sich der Pixeldiskurs-Podcast einen ganzen Monat lang bzw. über vier Folgen hinweg mit dem Themenkomplex „Spiele und Behinderung“. Sei es die Darstellung körperlicher Behinderungen in Games oder die Frage, wie Menschen mit Behinderungen Videospiele spielen. Für mich das mit einigem Abstand Beste und Fundierteste, was die Pixeldiskurs-Macher bisher verwirklicht haben. Ich hoffe auf Wiederholung zu einem anderen Thema.
Eure eigenen Lieblingskritiken des Jahres 2017 könnt ihr übrigens noch bis zum 07. Januar 2018 einreichen. Alle Informationen dazu findet ihr im Artikel bei Indieflock: Lieblingskritiken 2017: Die besten deutschen Videospielartikel
Über Diskussionen im Kommentarbereich freue ich mich natürlich auch! [sk]
Vielen Dank für die Erwähnung hier. :) Und ebenso für die vielen weiteren tollen Blogs. Ihr macht hier echt eine gute Arbeit!
LikeGefällt 1 Person