Nein, eine umfassende Kritik zu Xenoblade Chronicles X möchte ich nicht schreiben müssen. Fast 30 Stunden habe ich mit dem gigantischen J-RPG aus dem Hause Monolith Soft nun schon verbracht, und ich gehe davon aus, dass ich noch viele Wochen, wenn nicht Monate in den schier endlosen Weiten des Planeten Mira unterwegs sein werde.
Doch es sind nicht nur seine bloße Größe und die im Vergleich zum 2010 erschienenen Vorgänger auf der Wii nochmals gesteigerte Komplexität, die das Schreiben einer Rezension, die diesem Spiel gerecht wird, zur Herausforderung machen. Es sind vor allem seine Wechselhaftigkeit und Unausgeglichenheit – erzählerisch, ästhetisch und spielerisch, und letztlich eben auch qualitativ. Kurzum: Xenoblade Chronicles X ist ein einziges gigantisches Chaos.
Und das ist irgendwie auch gut so.
Left, right, left, the military step?
Sehr vieles an Xenoblade Chronicles X ist inkonsequent, undurchdacht oder einfach nicht gut – und man möchte fast meinen, dass das Spiel gerade zu Beginn sein Äußerstes tut, um einen möglichst unangenehmen ersten Eindruck zu hinterlassen. Da wäre etwa der gewaltig sexistische Charaktereditor zu nennen, und generell die Figurendesigns, die stilistisch wie technisch befremden. Oder auch die uninspirierte erste Kulisse, die ich offenbar supercool finden sollte, deren unausstehlicher Hurra-Militarismus in mir aber nur die Überzeugung schürte, dass ich – mit Gedächtnisverlust aufgewacht und um einen Beitritt gebeten – eigentlich sehr ungern ein Teil dieser Truppe werden möchte. Meine ablehnende Antwort auf die Frage nach meiner angeblich freiwilligen Partizipation bei „BLADE“ mochte das Spiel dann aber auch nicht akzeptieren; stattdessen wurde mir vorgehalten, dass ich – als von den Soldaten Geretteter – dem Militär doch etwas schuldig sei. Ja, danke, ihr seid schon ein sympathischer Haufen.
Bevor ich endlich frei agieren darf, muss ich noch eine Art Power-Point-Präsentation über die acht unterschiedlichen Job-Klassen über mich ergehen lassen, aus denen ich – bisher leider ohne spürbare Konsequenzen für das Gameplay – eine auswählen darf. Überhaupt macht Xenoblade Chronicles X aus seiner Workification keinen Hehl: Mein Held ist kein Auserwählter, hat keine Superkraft und nicht einmal irgendwelche hohen, edlen Ambitionen. Er ist einfach nur einer unter vielen, von dem erwartet wird, dass er sich in die Gesellschaft einbringt und hart arbeitet, um seinen Anteil zum Überleben der menschlichen Kultur leisten.
Earth-Aliens in Outer Space
Um das Überleben der Menschheit geht es zunächst nämlich. Außerirdische haben die Erde zerstört; die noch überlebenden Menschen suchen in den Weiten des Alls eine neue Heimat – so weit, so unoriginell. Interessanter ist da schon, dass die Erdbewohner nicht etwa im heroischen Kampf gegen einen Feind den kürzeren ziehen, sondern quasi als Kollateralschaden kosmischen Ausmaßes pulverisiert werden, nachdem zwei gleichermaßen überlegene Alien-Kulturen beschlossen hatten, ihren Konflikt vor der Haustür der eigentlich unbeteiligten Erdbewohner auszutragen. Offensichtlich ohne Eigenverschulden wird die Menschheit zur Flucht und ins Exil getrieben, ohne noch eine Heimat zu haben, in die sie je zurückkehren könnten. Überhaupt greift die Story gewichtige Themen auf: Genozid und Migration, interkulturelles Zusammenleben oder die Bewahrung kulturellen Erbes im Exil.
So richtig in die Gänge kommt die Handlung aber wohl erst jetzt, nach mehr als 20 Stunden; und obwohl ich mich niemals gelangweilt habe, ist also festzuhalten, dass das Erzähltempo ein sehr gemächliches ist, sogar noch mehr als im deutlich story-lastigeren Vorgänger auf der Wii. Das kommt dem Spieleinstieg insofern zugute, als der Spieler auch abseits der Geschichte genügend Dinge lernen und verstehen muss. Ich beginne nur mich zu fragen, ob die Story im weiteren Spielverlauf noch genügend Raum erhält, um aus ihren zahlreichen gelungenen Ansätzen etwas mit Tiefgang zu machen. Doch immerhin erweckt das Spiel derzeit nicht den Eindruck, bald vorüber zu sein: Ich habe noch nicht einmal meinen ersten Skell erhalten – eine Art Mech, der ganz neue Möglichkeiten eröffnen dürfte – und kenne nur drei der fünf Hauptareale, und selbst die alles andere als vollständig.
Life on other planets is difficult, so difficult…
Und hier sollte ich sagen: Ich bin froh, dass Xenoblade X so bald wohl nicht vorbei sein wird. Ich möchte keine langatmige „Spielspaßkurve“ schildern, sondern darf direkt offenbaren, dass ich nur schwer in Worte fassen kann, wie sehr ich Xenoblade X nach 25, 30 Stunden inzwischen mag. Schwächen, die bereits zu Beginn als Schwächen auffielen, sind zwar auch jetzt noch vorhanden; und so kann ich nicht behaupten, die ersten Eindrücke hätten getrogen. An die Seite seiner Schwächen ist allerdings eine lange Reihe positiver Aspekte getreten, faszinierende Aspekte, deren Entfaltung oft auch Zeit erfordert, um dann nur umso intensiver zur Wirkung zu gelangen.
Schlussendlich besticht Xenoblade Chronicles X nämlich durch zwei Dinge: Zum einen durch seine Fremdartigkeit, die vor allem daraus erwächst, wie Xenoblade X verschiedene, scheinbar widersprüchliche Spielelemente und Storyinhalte kombiniert: Beispielsweise erleben wir eine Spielwelt, deren Landschaften und Ökosysteme unheimlich auf Glaubwürdigkeit bedacht sind – diese Welt durchqueren wir mit einem Heldengespann, das aus dem Stand heraus springen kann wie Super Mario und hunderte Meter in die Tiefe stürzt, ohne Fallschaden zu erleiden. Wir erleben ein Spiel, dass die „Science“ in Science-Fiction zu würdigen weiß und uns zum Mechaniker, Archäologen und Biologen macht, das aber auch schon mal von uns verlangt, einen Alien mit gefrorener Pizza zu bestechen, um so an überlegene Waffentechnologie zu gelangen. Gerade zu Beginn erleidet die Immersion, die Xenoblade X mit viel Akribie konstruiert, durch solcherlei Widersprüche immer wieder tiefe Risse.
Letztlich funktioniert Xenoblade X wohl nur deshalb so gut – oder funktioniert überhaupt nur deshalb – weil es seine Spielhaftigkeit nicht verleugnet, sondern selbstbewusst nach außen trägt: Es ist ein Spiel, das bei aller Detailversessenheit stets seinen eigenen Regeln folgt, Regeln, auf die der Spieler sich einzulassen hat, und die auch deshalb anfangs nicht sehr zugänglich wirken. Bei den genannten Beispielen, genauso wie bei vielen anderen Dingen, müssen wir diese Regeln, Widersprüche, Seltsamkeiten irgendwann einfach akzeptieren, möchten wir Xenoblade X genießen können.
Lost in Blue
Die andere hervorstechende Qualität von Xenoblade Chronicles X ist dann ohnehin auch seine Größe. Natürlich ist Größe keine Qualität an sich, Spielzeit genauso wenig. Doch würde Xenoblade X als kompakteres Spiel nicht funktionieren, seine Dimensionen sind Programm und sein Charme entfaltet sich nur langsam, dafür aber umso intensiver.
So sind die Dimensionen des Planeten Mira weit mehr als (visuelle) Effekthascherei: Sie sind Voraussetzung für das Gefühl, eine vollständige neue Welt zu erkunden, die wir eben nicht sofort überblicken und verstehen können, sondern die uns auch nach Dutzenden Stunden noch ins Staunen versetzt und stets auf unseren Platz verweist; eine Welt, die war zwar kartographieren, aber nie kultivieren, erobern, uns untertan machen können. Erstaunlicherweise sind es hier vom allem Belange westlicher Gesellschaften, die im Spiel ihren Widerhall finden: Die amerikanische „Frontier“ während der Kolonisation Nordamerikas ebenso wie Flüchtlingsbewegungen der Gegenwart. Das ist auch das durchaus smarte, subversive Element in Xenoblades Welt: Die Fremden, die „Xenos“, das sind zuallererst wir selbst, die Heimatlosen, Gestrandeten, die nichts haben, als das, was sie bei sich tragen, und die doch noch immer auf der Flucht sind vor denen, die uns „Erd-Aliens“ nennen, und uns (aus noch unerfindlichen Gründen) ausgelöscht sehen wollen. Allerdings dauert es gar nicht lange, bis die menschlichen Siedler ihrerseits zur Xenophobie gegenüber den Asylsuchenden anderer Alien-Rassen neigen. Ein Thema, das in Xenoblade Chronicles X erstaunlich viel Raum erhält und auf überraschend komplexe (wenn auch manchmal naive) Weise behandelt wird; eventuell wird in einem separaten Artikel darüber noch zu sprechen sein.
Positiv ist auch, dass die Ausmaße des Planeten Mira mit der Spielmechanik niemals in Konflikt geraten. Beide Aspekte sind so perfekt aufeinander abgestimmt, wie es bei der schier unüberschaubaren Masse an Gameplay-Elementen eigentlich nur erstaunen kann. In einer kleineren Spielwelt würden die gelegentlichen (meist optionalen) Sammelquests irgendwann ermüden. Bei Xenoblade X hingegen entdecke ich auf meiner Suche nach irgendeinem Kraut quasi im Vorbeigehen immer auch Landschaftsformationen, deren Fremdheit und Erhabenheit mich auch jetzt noch ins Staunen versetzen. Ich genieße das spannende „environmental storytelling“ und darf mir stets sicher sein, dass alles, wirklich alles, was ich sehen kann, auch erreichbar ist: Sei es eine natürliche Brücke in der Ferne, über die ich aus mehreren hundert Metern Entfernung einen gigantischen Gegner laufen sehe. Sei es ein entferntes Leuchten im Dschungel, eine Insel vor der Küste oder ein Gipfel in den Wolken.
Fazit?
Hier möchte ich einen Schnitt machen. Es gäbe noch so viel mehr über dieses Spiel zu sagen und es ist gut möglich, dass ich irgendwann tatsächlich mehr darüber sagen werde. Für den Moment lautet das Fazit: Ich gebe mich geschlagen. Xenoblade Chronicles X ist so konsequent in seinem exzessiven Durcheinander, zelebriert seine Widersprüchlichkeit und seine Megalomanie mit einer solchen Gnadenlosigkeit, dass ich als Spieler irgendwann kapituliere, dass ich zu fragen und zu mäkeln aufhöre, und also gezwungen bin, das Spiel zu nehmen wie es ist (ein wenig so, wie ich Videospielen als Kind begegnete) und statt mich also mit der elaborierten Illusion einer kohärenten Welt zu umfangen, wie die offenen Spielwelten unserer Zeit das immer wieder versuchen, umfängt mich Xenoblade X auf eine Weise, die bei allem an diesem komplexen Spiel, was der Nintendo-Philosophie sonst diametral entgegensteht, dann doch wieder ziemlich Nintendo-haft ist: mit unverhohlener Spielhaftigkeit und einem in der berechneten Gleichförmigkeit zeitgenössischer Triple-A-Produktionen seltenen gewordenen „sense of wonder“, der – und das ist das eigentlich Besondere – nicht nur durch eine faszinierende Spielwelt und oft beeindruckende visuelle Schauwerte erzielt wird, sondern mittels eines fremdartigen Gameplay-Potpourris, das uns ohne lange Erklärungen vorgesetzt wird und das verlangt, dass wir uns mit seinen Eigenheiten auseinandersetzen. Xenoblade Chronicles X ist Arbeit, aber die Belohnungen haben es in sich. [sk]
Danke für diesen neugierig machenden Artikel.
Ich habe gerade mit dem ersten Teil auf der Wii begonnen und bin mal gespannt, wohin es mich bringen wird…
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Den ersten Teil habe ich auch gespielt – mit großer Begeisterung zwar, allerdings „nur“ 50 Stunden lang.
Dann zog das damals gerade für die WiiU erschienene Deus Ex: HR meine Aufmerksamkeit auf sich, und danach dann hatte ich erstmal andere Dinge zu tun. Je mehr Zeit verstrich, desto höher wurde die Hürde, die mich davon abhielt zu Xenoblade zurückzukehren. Irgendwann waren die Feinheiten der Spielmechanik und der Story so sehr vergessen, dass ich von neuem hätte beginnen müssen… Wobei ich nun zumindest das Kampfsystem dank Xenoblade X wieder einigermaßen drauf haben dürfte.
Irgendwann kehre ich aber sicher nach Monado – so hieß die Welt im ersten Teil, glaube ich? – zurück. Das ist ebenfalls ein großartiges Spiel und ich wünsche dir viel Spaß dabei!
Und Baten Kaitos wartet auch noch in meinem Regal… :D
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