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Chinese Box. So nennt man im Englischen eine Schachtel, die, wenn sie geöffnet wird, mehrere kleinere Schachteln oder (versteckte) Fächer offenbart, im übertragenen Sinne aber auch eine Sache, deren Komplexität und Inhalt auf den ersten Blick nicht ersichtlich sind. Eine „X-Box“ sozusagen, bei der das X für das verheißungsvolle Unbekannte steht, das den erwartet, der willens ist, das Kästchen zu öffnen und seine Schätze an sich zu nehmen.

Mir war die klassische Xbox, wie ich in meinem eigenen Beitrag am Beginn unseres Specials bereits erzählt habe, bis heute ziemlich fremd geblieben. Durch eure Beiträge habe ich auf sehr lebendige Weise sehr viel über diese Konsole lernen können, aus der Perspektive derer, die sie tatsächlich selbst erfahren und geschätzt haben. Authentische, individuelle Eindrücke, wie sie ein simples Durchlesen eines Wikipedia-Artikels nie hätte bieten können, und wie sie wohl auch eine nachträgliche Retro-Erfahrung nur bedingt reproduzieren kann.

Die Distanz von zehn, sechzehn Jahren hat diesen Rückblick sehr spannend werden lassen. Interessant war dabei auch, dass viele Gastkommentatoren offenbar die Notwendigkeit sahen, den Lesern von heute die Xbox überhaupt erst einmal vorzustellen, obwohl ich dazu gar nicht aufgerufen hatte. Etwas Apologetisches zieht sich durch fast alle eure Beiträge. Dennoch meine ich das gar nicht als Kritik, da es mit Blick auf die Xbox offenbar Sinn ergibt und weil zumindest ich sehr viel dabei gelernt habe. Wie mag es da erst den Jungspunden ergehen, die damals weder die Xbox noch einen ihrer Konkurrenten erlebt haben?

Bill, der Brückenbauer

Im Verlauf dieses Specials ist mir vor allem eine Sache zum ersten Mal so richtig bewusst geworden: Dass die Xbox gar nicht so sehr am Rand der Videospielkultur stand, wie ich das in meiner Unkenntnis immer empfunden habe. Mit Microsoft, so hört man oft, drang ein Fremder ins Konsolen-Business ein, ein Konzern, den man auch auf dem PC nicht zuerst mit Spielspaß und Entertainment assoziiert hätte, der die coole Heimkonsolenwelt mit einer Art verkappten PC im Gehäuse eines VHS-Recorders beschmutzte, den Markt mit seiner Aggressivität zerstörte, Nintendo das gute, alte Rare wegschnappte, und was nicht alles. Eine derart einseitige Sichtweise ist natürlich Quatsch und hätte ich so auch nicht unterstrichen.

Dass die Xbox aber nicht nur mir als das Fremde, das Andere erschien, ist eine Perspektive, die auch in euren Gastkommentaren insofern widerhallt, als viele Beiträge davon erzählen, wie ihre Autoren – interessanterweise oft aus der Nintendo-Ecke kommend – die Xbox erstmals kennenlernten und von ihrer Andersartigkeit und Power fasziniert waren. Ein eher gegensätzliches Bild vermitteln dagegen die von euch empfohlenen Spiele, die beinahe schon wie ein Querschnitt durch die Videospiel-Landschaft zu Beginn des Jahrtausends rüberkommen.

Dass die Spielebibliothek der Xbox keineswegs so einseitig war, wie es oft heißt, das ist, was ich aus den Gastkommentaren vor allem gelernt habe. Und dass die Xbox irgendwo am Rand der Heimkonsolenwelt gestanden hätte, erscheint mir nun nicht länger richtig. Ich würde vielmehr behaupten, dass die Xbox eine echte Brückenbau-Konsole gewesen ist, eben gerade weil sie bestehende Grenzen und Konventionen so aggressiv ignoriert hat. Inwiefern diesem Aspekt Erfolg beschieden oder er von Dauer war, darüber lässt sich streiten und das soll mein Thema hier nicht sein. Aber schauen wir uns diese Vielfalt einmal an…

Eine Spielebibliothek wie ein Schweizer Taschenmesser

Gerade weil Microsoft und die Xbox-Hardware dem PC näherstanden als irgendeine andere Konsole zuvor, brachten sie Gaming-Welten, die noch bis in die vorangegangene Generation sehr klar voneinander getrennt waren, näher zusammen und Spiele-Reihen ins Wohnzimmer, die man dort zuvor nicht erleben konnte. Mit dem Kauf von Rare (egal was man davon auch halten möge) nahm die Xbox ein Stückchen Nintendo-DNA in sich auf. Die Ur-Version von Xbox Live Arcade war ein erster Versuch, kleineren Spielen eine Plattform zu bieten. Und natürlich SEGA: Das orientierte sich nach dem Aus der Dreamcast zwar grundsätzlich multiplattform (viele SEGA-Franchises und zugehörige Studios sollten ihr Exil auch auf dem GameCube suchen, andere, wie Virtua Fighter, sogar auf der Playstation) aber natürlich spielte die Xbox bei SEGAs Neuorientierung eine ganz wichtige Rolle.

Und auch sonst war Japan keineswegs so außen vor, wie das aus Sicht von Playstation- und Nintendo-Anhängern oft dargestellt wird. Bestrebt, im japanischen Markt einen Fuß in die Tür zu kommen, bemühte sich Microsoft um Kooperationen mit dortigen Entwicklern. Da der Löwenanteil der verkauften Xbox-Konsolen allerdings auf die westlichen Märkte entfiel, sahen sich diese Entwickler gezwungen, ihre mitunter allzu japanischen, insularen Konzepte den internationalen Märkten anzupassen, und sammelten dabei Erfahrungen, die spätestens auf der nachfolgenden Konsolengeneration von Bedeutung sein sollten.

Dass unter euren Xbox-Lieblingsspielen viele Titel sind, die originär gar keine Xbox-Entwicklungen waren, mag das Argument eines limitierten Spieleangebots auf den ersten Blick unterstreichen. Auf der anderen Seite zeigt sich aber gerade darin, wie mannigfaltig das Lineup der Xbox doch war: Morrowind, Shenmue, Conker, OutRun – die Xbox als amerikanische Matroschka, die ein Nintendo 64, eine Dreamcast, einen Heim-PC und einen Arcade-Automaten in sich birgt – und neben all dem auch für Dead or Alive Xtreme Beach Volleyball noch Platz hatte.

Die Vielfalt der Xbox war damit eine andere Art der Vielfalt, als die, die man auf der PlayStation 2 erleben konnte, eine andere Art der Innovation und Originalität, als die, die der GameCube damals bot, ein Best Of aus vielen Welten, das neben einem selbstgeschaffenen und auf lange Sicht vielleicht etwas zu gut gepflegten Mainstream rund um Halo auch viele Nischen umarmt hat – und damit, so scheint es mir, gar nicht so sehr am Rand, sondern eher im Zentrum der damaligen stationären Digitalspiel-Kultur in ihrer Gesamtheit stand.

Diesen globalen Anspruch hat Microsoft in der Namensgebung der Folgekonsolen stets zu unterstreichen versucht: Die allumfassenden 360° der Xbox 360 und das ganzheitliche One der Xbox One. Auch was die angeht, bin ich kein Experte. Aus meiner limitierten Perspektive und auf Grundlage dessen, was ich von anderen höre, habe ich allerdings den Eindruck, dass dieses One immer mehr zu einem „one-sided“ zusammenschrumpft und dass der aktuellen Microsoft-Konsole diese wild lodernde Vielfalt, die die klassische Xbox so spannend gemacht hat, bedauerlicherweise abhanden gekommen ist. Es ist sicherlich leichter gesagt als getan, aber es wäre aufregend, orientierte man sich in Zukunft wieder stärker am unvergessenen Original.

Born to Play: der GameCube

Einige haben bestimmt schon daran gedacht: Nach dem 15. Europa-Geburtstag der Xbox steht am 03. Mai auch gleich der ebenfalls 15. europäische Geburtstag des Nintendo GameCube an! Auch zu diesem Anlass haben wir ein Special geplant, dass sich vom Xbox-Special ein wenig unterscheiden wird, für das wir aber ebenfalls auf der Suche nach Geheimtipps und Anekdoten sind. Die Details schicken wir voraussichtlich Mitte April in die Runde, aber die schreibwilligen GameCube-Veteranen unter euch können sich ja schon einmal Gedanken machen und sich ggf. auch schon bei uns melden. Bis dahin, und viel Spaß mit eurer Xbox, eurem GameCube und, klar, auch eurer PlayStation 2!

Sylvio Konkol, SPIELKRITIK-Chefredakteur