Part IV: Intention und Mittel, Fortsetzung
Holerö! In diesem mehrteiligen Feature möchte ich ergründen, wieso das deutsche Club Nintendo Magazin – ein regelmäßiges Printmagazin, dass Nintendo von 1989 bis 2002 kostenlos herausgab – in den Erinnerungen vieler Nintendo-Fans einen besonderen Stellenwert einnimmt, der mit Retro-Nostalgie allein nicht zu erklären ist und aus dem wir einiges lernen können – über gute Werbung und über das Geschichtenerzählen. Hier gelangt ihr zum ersten Teil.
„Röhrende Motoren, heiße Reifen, blubbernde Bremsflüssigkeit und viel zu laute Musik hinterm Steuer: Willkommen bei Ridge Racer 64, dem Spiel, in dem ihr all die lustigen Dinge tun dürft, die im wirklichen Straßenverkehr nicht nur verboten, sondern auch nicht empfehlenswert sind. Die fröhliche Raserei hat im Inneren eines Moduls Platz genommen und schickt sich an, euer Leben via Nintendo 64 mit einem Geschwindigkeitsrausch der Sonderklasse zu bereichern.“ (Ridge Racer 64, Micky Auer; Club Nintendo Ausgabe 1/00)
„Müssten wir ständig auf Pferde auf- und wieder abspringen, durch knietiefen Schlamm robben und gegen übermächtige Krieger im Schwertkampf antreten, hätten wir wohl schon längst eine VIP-Karte für den Chiropraktiker. Aber für Xena, die heldenhafte Amazone, gehören all diese Aktionen zum Tagesgeschäft. Jetzt lässt die Kriegerin ihren gefürchteten Kampfschrei auch auf dem Nintendo 64 erschallen!“ (Xena: Warrior Princess, Micky Auer; ebenda)
„Die Fratze des Terrors: Jede Nation der Welt hat ihr schon ins Antlitz geblickt, doch keine konnte ihr trotzen. Nun keimt Hoffnung auf: Unter Teilnahme mehrerer Nationen wurde die Einsatztruppe Rainbow Six gegründet, die binnen weniger Minuten jeden noch so fernen Schauplatz des Terrors zu erreichen vermag. Schließt euch der Elite-Einheit an!“ (Rainbow Six, Marcus Menold; ebenda)
Es handelt sich hier um die Einleitungen dreier, aufeinanderfolgender Artikel mit einem Umfang von je einer Seite. In gewöhnlichen Reviews/Previews dienen derartige Einleitungen zunächst dem Ziel, die Aufmerksamkeit des Lesers zu gewinnen und ihn so zum Lesen des Artikels zu bewegen. Im Club Nintendo Magazin hingegen spielt auch hier die Werbe-Komponente hinein: Immer geht es darum, Begeisterung zu wecken – für das Spiel und für die Abenteuer, die im Modul schlummern. Auffällig ist, wie diese Abenteuer in direkter Beziehung zur Lebensrealität des Lesers gesetzt werden. Die Autoren verstehen es, dem Medium Videospiel in seiner Eigenschaft als interaktives Medium gerecht zu werden: Das Spielgeschehen wird vom Spieler nicht nur passiv konsumiert, sondern aktiv erlebt; Fiktion und Realität stehen gleichbedeutend nebeneinander. Auch deswegen steht im Zentrum der Betrachtung nicht die etwa „objektive Qualität“ des Videospiels, deren Beschreibung es erforderte, ein Spiel als abgegrenzten Gegenstand zu betrachten und kritisch einzuschätzen, sondern vielmehr das Spielerlebnis als solches, das im Schnittpunkt zwischen Lebenswirklichkeit und objektivem Spielinhalt individuell entsteht und von subjektiven Empfindungen geprägt ist – und zwar nicht denjenigen des Redakteurs sondern des Lesers/Spielers.
Während manche Leser gewöhnlicher Spieletests dem Irrglauben anhängen, Spiel A habe ihre Aufmerksamkeit und ihr Geld eher verdient, weil es zwei Prozentpunkte mehr erhalten hat als Spiel B, sieht sich der Leser des Club Nintendo Magazins – freilich unterbewusst – mit dem Primat seiner eigenen Meinung und seines persönlichen Geschmacks konfrontiert: Da alle Spiele mehr oder weniger gleichermaßen als „großartig“ dargestellt werden (auf vorhandene Unterschiede komme ich weiter unten zu sprechen) und keinerlei abstraktes Wertungssystem unsere Aufmerksamkeit auf sich vereinen kann, entscheiden zunächst einmal das Thema oder der Charakter eines Spiels, ob wir uns ganz grundsätzlich angesprochen fühlen. Die gerade zitierten Passagen sind ein schönes Beispiel für die Vielfalt möglicher Interessen.
Propaganda oder: Die Autorität des Lesers
Bis hierher lassen sich aus Sicht des Lesers zweierlei Mechanismen festhalten. Einerseits wird er insofern informiert, als dass die Artikel relativ detailliert (natürlich immer in Relation zum Artikelumfang zu sehen) und durchaus faktengetreu die Inhalte des fraglichen Spiels beschreiben (wobei offensichtlich ist, dass die narrativen Aspekte eines Spiels – den spielerischen gegenüber – im Vergleich mit anderen Videospiel-Publikationen außergewöhnlich viel Raum erhalten). Dass diese Beschreibungen in einer oftmals sensationellen und allseits unkritischen Sprache vorgetragen werden, ändert am Informationsgehalt im engeren Sinne zunächst einmal wenig. Dieser Punkt wird erst dann relevant, wenn der Leser erwartet, aus dem Artikel nicht nur auf den Inhalt sondern auch auf die Qualität des besprochenen Spiels schließen zu dürfen. Dabei sei der Einfachheit halber außer Acht gelassen, dass sich (objektiv vorhandener) Inhalt und (subjektiv-kritisch evaluierte) Qualität natürlich nie klar trennen lassen: Ist die Aussage, ein Rennspiel sei „realistisch“ lediglich eine beschreibende Charakterisierung des Spielinhaltes, oder aber ein positiv-wertendes Qualitätsurteil?
Daneben wird der Leser mit dem Versuch der gezielten Beeinflussung seiner Haltung zum Spiel konfrontiert – und zwar weniger, indem versucht würde, ihn von der objektiven Qualität des Titels zu überzeugen, als vielmehr mit emotionalen Appellen an seine Vorstellungskraft und seine Interessen, um so Begeisterung für die Thematik bzw. die „Natur“ des Spiel zu wecken oder aber bereits existierende Interessen auf ein entsprechendes Spiel zu lenken. Werfen wir dazu noch einen Blick auf eine Passage aus einem nur viertelseitigen Artikel zu „Roadsters“, die allein fast 50 Prozent des Gesamttextes ausmacht:
„Racing-Game für Yuppies!?
BMW Z3 gefällig? Oder vielleicht ein Porsche Boxster? Oder ein Mazda Miata? Wer sich ans Steuer einer dieser motorisierten Raketen setzen möchte, der muss sein Konto nicht mehr enorm belasten oder einen harten Finanzierungsplan ausarbeiten: In Roadsters verwöhnt das Team von Titus euch mit 30 auf Hochglanz polierten PS-Geschossen, die den Vorbildern zum Verwechseln ähnlich sehen!“ (Roadsters, anonynm; 1/00, 35).
Die Schwärmerei ob des Fuhrparks wird uns kalt lassen, wenn uns derartige Autos nicht interessieren. Tun sie das aber, dann könnte das Spiel unsere Aufmerksamkeit und unser Geld wert sein – und das, obwohl es nur auf einer Viertelseite vorgestellt wird. Denn obwohl wir natürlicherweise davon ausgehen, dass ein auf acht Seiten präsentiertes Spiel des Monats spektakulärer sein dürfte als eine Randnotiz wie Roadsters, so werden wir eine explizite Höherschätzung des einen gegenüber des anderen nirgendwo finden.
Genau darin liegt ein weiterer, entscheidender Unterschied zu gewöhnlichen Spieletests. Letztere dienen ganz entscheidend der Kaufberatung. Dabei kommt in aller Regel der numerischen Gesamtwertung eine zentrale Rolle zu, auf Grundlage derer alle getesteten Spiele in einem Ranking platziert werden können. Natürlich ist nicht davon auszugehen, dass ein RPG-liebender Fußball-Hasser am Ende zu FIFA anstelle von Final Fantasy greifen wird, weil das Spielemagazin seines Vertrauens die Fußballsimulation um zehn Prozent höher bewertet hat als das Rollenspiel. Aber auch wenn explizite Werturteile keine vollends autoritative Macht haben, ist dennoch bemerkenswert, dass sie die Grundeinstellung zu einem Spiel entscheidend prägen und Videospieler ihre eigenen Kaufentscheidungen oder Urteile oft nur in Beziehung zu diesen „Fachurteilen“ setzen. Im Club Nintendo Magazin hingegen wird das Kriterium des persönlichen Geschmacks zum entscheidenden Kriterium – es muss dazu werden, da alles andere dem Heftkonzept entgegenliefe. Jedes Spiel wird zunächst einmal wohlwollend betrachtet und jedem werden Stärken bescheinigt, von denen viele ganz und gar subjektiv sind.
Dabei bin ich der Ansicht, dass die Artikel im Club Nintendo Magazin – ganz egal wie unkritisch sie auch sein mögen – uns nichtsdestotrotz eine solide Grundlage bieten, um abschätzen zu können, ob ein Spiel uns prinzipiell gefallen könnte. Ausschlaggebend sind dabei zum einen unsere persönlichen Vorlieben und Interessen, an die wir in den emotionsgeladenen Texten „erinnert“ werden und die beeinflussen, ob uns eine Spielthematik im Ansatz begeistern kann. Ausschlaggebend sind aber auch die ganz konkreten, faktischen Infos zum Spielinhalt, die uns einen Eindruck davon geben, ob das Spiel als solches gelungen ist und unseren Erwartungen an die Thematik gerecht werden kann. Auch dieses Urteil müssen wir selbst fällen: Uns mag gesagt werden, dass Racer XY sechs Strecken bietet – ob diese Zahl uns allerdings zufrieden stellt, das liegt an uns, und dass der Redakteur die Strecken mit typischem Wohlwollen als „abwechslungsreich“ oder „spannend“ beschreibt, hilft dabei nur sehr bedingt weiter. Das Club Nintendo Magazin präsentiert somit einen erfreulich anti-autoritären Blick auf Videospiele, was einer Grundtendenz des wertungsorientierten Spielejournalismus entgegenläuft und individuellen Sichtweisen viel Raum lässt.
Dennoch werden sich die meisten Leser wohl fragen müssen, ob das Spiel, das einen so tollen Eindruck macht, denn auch tatsächlich so gut ist? Genau das verraten die Artikel im Club Nintendo Magazin nicht (obwohl es in einzelnen Artikeln im Jahre 1998 ganz vorübergehend die Tendenz gab, den einen oder anderen Schwachpunkt eines Spiels kurz anzusprechen). Wohl aber finden wir Indizien, die zumindest implizit auf die tatsächliche Qualität eines Spiels hindeuten. Neben Screenshots, die uns – so sie denn authentisch sind – nicht nur einen Eindruck von Spielinhalt und Stil, sondern zumindest schon mal von der grafischen Qualität eines Titels geben können, sind zwei Aspekte aufschlussreich: Die Quantität der Berichterstattung einerseits, sowie andererseits die Intensität der verwendeten Superlative und die individuelle Textqualität generell. Der im dritten Teil dieses Features zitierte Schlussabsatz zu Rayman 2 etwa ist nicht nur umfangreich, er ist auch besonders liebevoll formuliert worden.
Im fünften Teil des Features lest ihr dazu mehr.